Mit Algen begann alles Leben. Nun trachtet man nach dem ihren.

 

 

 

 

 

 

Würde das Buch nicht mit seinem Untertitel verraten, worum es geht, wär es kaum neben meinem Bett gelandet und hätte Nacht um Nacht meine Aufmerksamkeit gefordert, bis Hirn und Augen endlich nach Schlaf verlangten.

Wie Callum Roberts‘ Buch vom Meer beginnt auch Ruth Kassingers «Slime» sozusagen beim Urknall. Diesmal aber sind es die Algen, mit denen alles überhaupt beginnt, zunächst mit kleinen einzelligen Bakterien, die eine für unsere Begriffe lebensfeindliche Umwelt in riesiger Zahl bevölkern und dabei erstaunliche Fähigkeiten entwickeln, sich zellteilend oder sich in Symbiose zu Lebewesen mit verdoppelten Fähigkeiten verbindend. Im Lauf von Millionen und  Milliarden von Jahren entstehen immer mehr und grössere Algenarten, grüne, rote, braune, bis zum einige Dutzend Meter langen Riesentang. Selbst die Pflanzen auf dem Land haben ihren Ursprung im Wasser; sie sind die Nachkommen jener Algenarten, die dank ihrer spezifischen Fähigkeiten überleben konnten, nachdem sie an Land gespült worden waren.

Die in den USA lebende Wissenschaftsautorin Kassinger beschreibt die Geschichte der ersten Besiedlung unseres Planeten mit ansteckender Faszination. Mit derselben Begeisterung erzählt sie von ihren Besuchen bei Fischern in den USA, Grossbritannien und Südkorea, die dank jahrhundertelanger Erfahrung und moderner Wissenschaft gelernt haben, Algen nicht nur zu ernten, sondern auch im Meer zu züchten und zu allerlei leckeren Bestandteilen für unsere Ernährung zu verarbeiten. Im letzten Kapitel publiziert Kassinger zahlreiche Rezepte; ihr Buch wird denn gelegentlich auch als Kochbuch empfohlen, was dessen umfassenden Inhalt freilich nur ganz am Rand gerecht wird.

Die Begeisterung der Autorin für Algen macht freilich auch nicht Halt vor deren Züchtung und Nutzung unter hochindustriellen Bedingungen. Ihr Buch liest sich über weite Strecken wie ein Who is who all der verrückten Wissenschafter und Investoren, die in Algen ein enormes Geschäftsmodell entdeckt haben, oft mit Konkursfolge, aber einige machen gutes Geld. Ethanol als Treibstoff, hochwertiges Omega-3-Fettsäuren als Futterzusatz für Zuchtfische und als Nahrungsergänzung für Menschen, Kunststoffe jeglicher Art: Dies alles und mehr lässt sich aus Algen gewinnen, und da viele Meeresgebiete längst nicht mehr so unberührt sind wie einst, werden Algen zunehmend in abgeschirmten Tanks unter geschlossenen Hallen gezüchtet, und da man sie schon mal unter Kontrolle hat, kann man sie gleich auch genetisch verändern. Meine Begeisterung beim Lesen erlahmt nun etwas und weicht der Frage, was sich die naturbegeisterte Autorin dabei denn gedacht haben mag.

Insgesamt ist Kassingers Buch eine spannende, genussvolle und lehrreiche Lektüre. Leider ist bis jetzt keine deutsche Übersetzung in Sicht; doch Kassinger schreibt wie viele anglophone Wissenschafter so flüssig und lesbar, dass ihr leicht folgen kann, wer etwas Übung in englischer Konversation und Zeitungslektüre mitbringt.

Ruth Kassinger: “Slime. How Algae Created Us, Plague Us, and Just Might Save Us”.  Houghton Mifflin Harcourt, Boston/New York, 2019, 318 S., gebunden, ISBN  978-0-544-43293-2

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