Afghanisches Epos

Videostill aus dem Film

Ein gewaltiges Epos über ein Land, das in den vergangenen vierzig Jahren nur Krieg erlebt hat, der stets durch Grossmächte gefördert wurde, bis sie das Land wegwarfen wie einen alten schmutzigen Lappen. Grandiose Landschaften, erhellende Porträts von einzelnen Frauen und Männern, die in Afghanistan eine Rolle spielten, als zerstrittene Kriegsfürsten, Kriegspoeten, Glaubenskrieger oder als Anhängerinnen einer zivilen, laizistischen bis moderat muslimischen Gesellschaft. Berührende, berückende und bedrückende Szenen, manchmal niederdrückend vor Zorn und Scham über das, was unter aller Augen, die es sehen wollten, einem Land, das einigermassen in Einklang mit sich und seiner Umwelt gelebt hatte, in jüngster Zeit und in steter Verletzung des Völkerrechts angetan werden durfte.

Was dieser Film ausblendet, ist die viel längere Vorgeschichte. Seit den 1830er Jahren stritten sich Briten und Russen im Versuch, grösseren Einfluss auf die Reiche in Zentralasien zu nehmen und den Einfluss der andern Macht zu vereiteln; auch in Afghanistan. Auch diese Geschichte unter dem Namen «The Great Game»  ist voller kolonialistischer Arroganz und Brutalität, vor allem auf Seiten Grossbritanniens, das anders als Russland überhaupt nicht in Zentralasiens Nachbarschaft lag; es ging den Briten um den Schutz des südöstlich angrenzenden Indiens, das sie sich unter den Nagel gerissen hatten, sprich: um den Schutz ihrer ausbeuterischen Geschäfte.

Die afghanische Bevölkerung war also seit mindestens fünf Generationen an derartige Übergriffe von aussen gewohnt; doch das Geschehen ist mit der massenhaften Zerstörung in den vergangenen vierzig Jahren kaum zu vergleichen: Erst durch die Sowjetunion, die den afghanischen Kommunisten, einer der führende Kräfte im Aufbruch zu einer Modernisierung der Gesellschaft, «zu Hilfe» eilte, dann die rivalisierenden und von rivalisierenden Staaten in der Region unterstützten Mujaheddin, dann die Taliban, junge Muslimschüler, deren wichtigste Waffe ihr fanatischer Glaube war, und schliesslich die USA mit ihren Vasallen im Schlepptau, die zuvor islamistische Extremisten an ihrer Brust genährt hatten, um der Sowjetunion zu schaden und sie zum Rückzug zu drängen. Am Ende blieb eine Bevölkerung zurück, sich selbst überlassen, ohne echte Aufbauhilfe, müde von all den Kriegen untereinander, deren widerstandsfähigste Köpfe – im Film sind es wohl nicht zufällig Frauen – auf einen Neuanfang hin arbeiten, auch gemeinsam mit Taliban, von denen sie einst brutal unterdrückt worden waren.

Als Zuschauer fühlte ich mich von diesem weitgehend dokumentarischen Film auf mein Sofa gepresst, schämte mich meiner bequemen Lage und frage mich: Was kann ich denn tun, um die Menschen dort, die mir in viermal 55 Minuten so nah gekommen sind, auf ihrem Weg in eine bessere Zukunft zu unterstützen?

Mayte Carrasco, Marcel Mettelsiefen:
«Afghanistan, das verwundete Land», NDR, 2019.
Verfügbar auf ARTE bis 5. Juli 2020

 

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