Marlen Haushofer: «Die Wand»

Unter all den Büchern, die ich im Lauf der Jahre gelesen hab, ist «Die Wand» vermutlich jenes, das mich am stärksten beeindruckt hat, unmittelbar beim Lesen und nachhaltig in der Erinnerung.

Die Geschichte ist enorm beklemmend. Plötzlich ist da nichts mehr, alle andern Menschen sind verschwunden, die Protagonistin sieht sich über Nacht allein gelassen in einer abgelegenen Gegend, die sie im Erkunden zudem als abgeschlossen erfahren muss, ungläubig zunächst, aber unentrinnbar: eine hohe Wand aus dickem durchsichtigem Material umschliesst ihre kleine Welt. Was sie durch die Wand erblickt, sieht nicht lebendig aus. Etwas muss passiert sein; was, bleibt ungewiss.

Die im Grunde wenig ereignisvolle Geschichte ist beklemmend gerade in der ruhigen, fast beschaulichen Art, in der sie erzählt wird. In einer meisterhaften Sprache, um genau zu sein. Präzis, knapp, anschaulich. Die Sprache einer Frau, die ihren Alltag berichtet; aber nicht den gewohnten Alltag als Hausfrau, sondern den einer Frau, die all ihr Wissen und Können darauf verwendet, unabhängig und selbständig zu werden und zu überleben: zu leben!

Es ist keine feministische, rebellische Sprache, in der Marlen Haushofer erzählt. Selbst als die Protagonistin einen Mann umbringt, der unerwartet als einziger Mitmensch in ihrem Biotop auftaucht und ihr Leben durchkreuzt, wird nicht als Tat einer Frauenbefreiung herausgestrichen; der Mord ergibt sich vielmehr aus der Autonomie der Person unaufgeregt folgerichtig, im Lesen nachvollziehbar.

Für mich gehört dies zur unglaublichen Stärke dieses Buchs, dass es im Kleinen beschreibt, was im Leben einer Person passiert, die plötzlich vollkommen auf sich allein gestellt wird und sich ohne fremde Hilfe im wahrsten Sinn autonom organisieren muss. In der Gesellschaft, in welcher die 1920 in einer österreichischen Landgemeine geborene Marlen Haushofer aufwuchs, war Autonomie vielleicht das, was ein Mann erringen konnte, wenn er klug und wohlhabend genug war; aber gewiss nicht eine Frau. Das spricht ihr Roman nicht frontal an, sondern macht es durch das lesende Miterleben erfahrbar, aber so, dass es erst allmählich ins Bewusstsein gerät, vielleicht erst Jahre nach der Lektüre, weil die einfachen, aber kraftvollen Bilder nicht aus dem Gedächtnis weichen.

Es passt zur ohne absehbares Ende gebliebenen Geschichte und zu jener Zeit, dass die zu derartiger Sprachkunst Begabte und damals auch Gelobte von der Literaturwelt bald wieder vergessen wurde. Hätte sich Marlen Haushofer mit weiteren grossartigen Werken dagegen zu wehren vermocht, wenn sie nicht im Alter von 49 Jahren an Knochenkrebs gestorben wäre? Ich wünschte es ihr.

Roman, 1963. Klett, 1986, ISBN 3-12-351960-0 (oder dtv, 1991)

Kongenial verfilmt von Julian Roman Pölsler mit Martina Gedeck (2012)

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