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Die Atombombe in Netanyahus Hand ist die reale Gefahr

Sonntag, 15. Juni 2025

Seit Jahrzehnten warnt die israelische Führung, der Iran werde «innert Kürze» die Atombombe haben. Warum erhält dann die israelische Armee den Befehl zum Angriff auf den Iran erst und ausgerechnet jetzt?

Benjamin Netanyahu (Foto: UK gov’t/Wiki) und Ali Khamenei (khamanei.ir/Wiki)

Motiv 1: Die Mullahs dürfen die Bombe nicht haben

Gehen wir zuerst einmal davon aus, das Ziel der israelischen Kriegseröffnung bestehe tatsächlich darin, zu verunmöglichen, dass der Iran Atombomben baut. Gehen wir weiter davon aus, dass es Israel wahrscheinlich nicht gelingen kann, das gesamte iranische Atomprogramm jetzt sofort in Schutt und Asche zu legen. 

Die wahnwitzige Aktion der israelischen Regierung verhindert keinen Atomkrieg zwischen den beiden Ländern, sondern fördert ihn geradezu. Denn 

(a) entweder steht der Iran tatsächlich unmittelbar vor der Fertigstellung von Atomwaffen, wie Israel behauptet; dann besteht das Risiko, dass der Iran sich der Angriffe erwehrt, in dem er diese Waffen sofort fertigstellt und gegen Israel einsetzt.

(b) Oder aber der Iran hat gar keine Atomwaffen; in diesem Fall besteht das Risiko, dass der Iran sich nun raschestmöglich atomar bewaffnet, um Israel bei einem späteren Krieg zu begegnen.

Einmal ganz abgesehen vom durchaus realen Risiko eines Atomunfalls bei der Bombardierung von Atomanlagen, vor dem die Atomenergiebehörde (IAEA) nich kurz vor dem Angriff ausdrücklich gewarnt hat [14].

Im Iran gebe es noch lange keine einsatzfähige Bombe, so Jan Busse von der Universität der Bundeswehr München am 13. Juni in der Sendung ZDF heute. Es fehlten ein funktionsfähiger Sprengkopf und ein geeignetes Trägersystem. Experten gingen davon aus, dass der Iran mindestens noch ein bis zwei Jahre bis zu einer einsatzfähigen Atomwaffe brauche, selbst unter der spekulativen Annahme, dass die politische Führung den Bau von Bomben bereits beschlossen habe. [1]

Und genau dieser politische Beschluss der iranischen Führung zum Bau von Atombomben fehle bis heute, sagt Jim Walsh, der zu Atomwaffenprogrammen am Massachusetts Institute of Technology (MIT) forscht. Und er fährt fort, dass nun nach dem israelischen Angriff die Befürworter der Atombombe innerhalb des iranischen Führungszirkels die Oberhand gewinnen könnten. [2]

Aber hat denn der Iran überhaupt (die Voraussetzungen zum Bau von) Atomwaffen?

«Diese Sorge treibt die Welt um. Und einiges spricht dafür, dass die Mullahs mehr wollen als nur die friedliche Nutzung der Nukleartechnik», behauptete die zweiteilige Serie «Iran und die Bombe», die am 15. März vom Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) ausgestrahlt wurde [3][4].

Der zweite Teil, «Auf dem  Weg zur Atommacht» wurde mehr als zwei Jahre später, nämlich am Abend nach Beginn der israelischen Angriffe, am 13. Juni 2025 auf ARD erneut abgespielt, ganz so, als ob eine öffentlich-rechtliche Sendeanstalt in Deutschland Teil der israelischen Kriegspropaganda wäre [5].

Die beiden Filme fassen einigermassen interessant zusammen, was die Regierungen in Israel, den USA und europäischen Ländern seit langem befürchten. Konkrete Beweise dafür, dass der Iran unmittelbar vor dem Bau von Atomwaffen steht, fehlen freilich. Vor allem aber fehlt jeder auch noch so kleine Hinweis darauf, dass Israel seit Jahrzehnten über Atomwaffen verfügt. 

Motiv 2: Ablenken von der israelischen Atombombe

Offiziell wird nicht von der Existenz israelischer Atomwaffen gesprochen. Westliche Regierungen und Medien folgen der Haltung der USA: Ihr sagt uns nicht, was ihr tut, und wir wissen von nichts. Tatsächlich gehört es zur israelischen Strategie, die Dinge im Ungewissen zu belassen, weil man sich davon noch mehr Abschreckungswirkung verspricht. 

Zuerst haben die USA das isrealische Atomprogramm unterstützt, dann Frankreich und Deutschland und schliesslich das südafrikanische Apartheid-Regime (Gleich und Gleich gesellt sich gern) mit einem Deal: Uran gegen Atomwaffentechnologie. Nachzuhören in einer ZDF-Sendung aus dem Jahr 2013; damals durfte man sich in deutschen Leitmedien offenbar noch kritisch zur israelischen Politik äussern. [6] Ideologischer Hintergrund der israelischen atomaren Bewaffnung ist die sogenannte «Samson-Option», ein extremes letztes Mittel der Verteidigung, auch wenn man dabei selber ebenfalls zugrunde gehen sollte [7].

Ausgerechnet der unheimliche Atomstaat Israel nimmt das Recht in Anspruch, einen Präventivschlag gegen den Iran und sein Atomprogramm durchführen zu dürfen. Dieses Recht bestehe aber im vorliegenden Fall überhaupt nicht, wie der Politologe und einstiger Schweizer Botschafter im Iran, Tim Guldimann, am 14. Juni gegenüber Schweizer Radio SRF ausführte. Und er fügte hinzu, dass er von der Schweizer Regierung eine eindeutige Verurteilung des israelischen Angriffs erwarte; denn die Verteidigung des Völkerrechts sei gerade für kleinere Staaten wie die Schweiz von enormer Bedeutung. [8]

Der klügste Schritt, um die iranische Führung vom Bau eine Atombombe abzubringen, wäre es, wenn Israel endlich dem Atomsperrvertrag beiträte, sich der Kontrolle der internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) unterzöge und sich – ähnlich wie einst die Ukraine – verpflichten würde, das Atomwaffenarsenal auf null abzubauen.

Motiv 3: Ablenken vom Holocaust in Gaza

Die Angriffe auf den Iran würden auch dazu dienen, Israel aus der zunehmenden internationalen Isolation wegen seines fortdauernden Völkermords im Gazastreifen zu lösen, ja: ihn gar in Vergessenheit zu bringen, sagt Bernard Hourcade, Geograf, Iranexperte und ehemaliger Direktor des Forschungsinstituts Frankreichs im Iran. Israel versuche, den Iran als das wahre Problem zu präsentieren, was für das Publikum im Westen relativ einfach zu bewerkstelligen sei, da sich der Iran wegen seines diktatorischen Regimes und der Missachtung der Menschenrechte als Idealfeind gerade zu anbiete. [9]

Motiv 4: Regime change

«Kann Israel seine offiziellen Ziele, nämlich die Zerstörung des iranischen Atomprojekts, erreichen? Keineswegs; aber das ist auch nicht das eigentliche Ziel. Israel will die gesamte Region versklaven. Es strebt einen Regimewechsel im Iran an. Die arabischen Führer haben sie bereits in der Tasche, das arabische Volk aber nie», sagt Gilad Atzmon, ein in Israel aufgewachsener Autor und Jazzmusiker, der längst anderswo lebt, einer der schärfsten Kritiker Israels ist und in Abrede stellt, dass Staaten ein Existenzrecht hätten, so auch Israel nicht. Warum Atzmon weiss, was Netanyahu vorhat? «Ich war 30 Jahre lang Jude, ich kann denken wie Netanjahu.» [10]

Noch am Tag der ersten Angriffe rief Israels Regierungschef Netanyahu die iranische Bevölkerung zum Aufstand gegen das Mullah-Regime auf [10]. Was der iranische Aussenminister Khoshcheshm gegenüber Al-Jazeera umgehend trocken kommentierte: Netanjahu wisse genau, dass dies eine Verhöhnung sei und dass er andere Ziele verfolge, andernfalls wäre er dumm, solche Wunschvorstellungen zu haben [11].

Iran hat einschlägige Erfahrungen mit Regime Change. 1953 war es den Geheimdiensten der USA und Grossbritanniens (CIA und MI6) gelungen, mit einer verdeckten Propagandaaktion unter dem Codenamen Ajax den demokratisch gewählten Premierminister Mohammad Mosaddegh zu stürzen, nachdem er die Verstaatlichung der iranischen Erdölproduktion und die Enteignung der ausländischen Anteile an der Anglo-Iranian Oil Company angeordnet hatte [12]. Die widerwärtige Aktion trug nicht nur zum späteren Sturz des Schahs und zum Aufstieg der Mullahs bei, sondern auch zu einem anhaltenden Misstrauen in der iranischen Bevölkerung gegenüber dem Westen. Von ausländischen Regierungen vorangetriebene Regime changes werden immer zu Bumerangs, die jüngere Geschichte ist voll von Beispielen dafür.

Motiv 5: Persönliches Überleben

Netanyahu dürfte nicht zuletzt ein ganz persönliches Motiv haben, den Krieg im Gazastreifen in die Länge zu ziehen und jetzt auch noch den Iran in einen Krieg zu verwickeln. In berlusconischer Manier versucht er, so lange wie möglich Ministerpräsident zu bleiben, um den Prozess wegen Korruption bei drohender Verurteilung hinauszögern zu können. Seit 2020 ist er wegen Betrugs, Veruntreuung und Korruption angeklagt. Je länger er behaupten kann, für die Sicherheit Israels an erster Stelle verantwortlich zu sein, desto länger kann er vorgeben, für Gerichtsverhandlungen schlicht keine Zweiot zu haben. [15][16] 

Im Kern handelt es sich dabei um eine private Anwendung der «Samson-Option»: Und wenn ich schon untergehen muss, dann alle anderen mit mir.

Quellen:

[1] https://www.zdfheute.de/politik/ausland/israel-iran-angriff-atomprogramm-100.html

[2] https://www.spiegel.de/wissenschaft/iran-israel-die-wahrscheinlichkeit-eines-atomkrieges-zwischen-israel-und-iran-ist-stark-gestiegen-a-176ec330-eb3c-42c1-880a-1f29ec640c2b

[3] Iran und die Bombe (1): Vom Partner zum Feind. ZDF, 15.03.2023. https://www.zdf.de/video/dokus/iran-und-die-bombe-ein-land-auf-dem-weg-zur-atommacht-100/iran-und-die-bombe-vom-partner-zum-feind-100

[4] Iran und die Bombe (2): Auf dem  Weg zur Atommacht. ZDF , 15.03.2023. https://www.zdf.de/dokus/iran-und-die-bombe-ein-land-auf-dem-weg-zur-atommacht-100?staffel=1

[5] Iran und die Bombe, ARD/Phönix, 13.06. 2025 https://www.ardmediathek.de/tv-programm/684bfba3d8d91bda0826e649

[6] Israels Atombombe, ZDF-History, 12.05.2013. https://www.youtube.com/watch?v=L4cF3kY3OVk

[7] Samson Option, https://en.wikipedia.org/wiki/Samson_Option

[8] Radio SRF, Echo der Zeit, Iran und Israel: Ist die Diplomatie gescheitert? https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/iran-und-israel-ist-die-diplomatie-gescheitert?partId=T-sn77GnjlsKyiJrLvoAkIdbZKE

[9] Reel von Bernard Hourcade, https://www.facebook.com/reel/688689047343550

[10] Gilad Atzmon, https://www.facebook.com/gilad.atzmon/posts/pfbid0EhY9RZtpPudJatagistyQjYkBRpQgX3Fg5rjpt4HR6TdwtnzAZomCgYhh1zEEwjml

[11] Rede von Netanyahu am 13.06. 2025, https://www.wsj.com/video/netanyahu-calls-on-iranian-people-to-overthrow-their-government/3FB0ED3A-7AB5-489F-82CD-1E4231E0ED2B

[12] Statement des iranischen Aussenministers vom 13.06.2025, https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/6/14/live-israel-warns-tehran-will-burn-after-deadly-missile-barrage-by-iran?update=3774465

[13] Operation Ajax, 1953, https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Ajax

[14] Warnung der IAEA, https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-04/iaea-risko-atomunfall-kriege-israel-iran-ukraine

[15] https://www.tagesspiegel.de/internationales/israels-hartes-vorgehen-in-gaza-benjamin-netanjahu-der-unerbittliche-krieger-13743736.html

[16] https://www.blick.ch/ausland/hat-sich-israels-premier-uebernommen-benjamin-netanyahus-schwerster-kampf-id20961572.html

Too big to fail ist tot, es lebe die verkleinerte Bank

Dienstag, 11. Februar 2025

Wenn Banken ihr Eigenkapital nicht so erhöhen wollen, dass es das von ihnen eingegangene Risiko absichert, bleibt nur die Zerschlagung von «too big to fail»-Banken.

        Bildgrundlage von Ank Kumar (Wikimedia Commons)

Dass überbezahlte Top-Prädatoren wie der Häuptling der UBS sich gegen die Forderung nach Eine Erhöhung ihres Eigenkapitals wären und behaupten, das würde ihre Wettbewerbsfähigkeit gefährden [1], ist nicht weiter erstaunlich – solche Leute haben schon immer auf Kosten von vielen anderen gewirtschaftet und bei missglückten Hochseilakte stets nach grossen bunten Fallschirmen geschrien, die sie auch meist bekommen haben, weil ihresgleichen in der Politik dafür gesorgt hat. Das Wirtschaftssystem hat das bisher einigermassen verkraftet; doch inzwischen hat das Risiko eines Zusammenbruchs der UBS ein Ausmass erreicht, dass die ganze Schweiz existenziell treffen könnte. 

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Der richtige Mann zur falschen Zeit

Montag, 10. Februar 2025

Über die Unmöglichkeit, anständig zu reagieren, wenn eine auf Krawall gebürstete Rechte das nicht will. Gute Analyse in der heutigen «Republik» [1]. Doch was nun?

Foto: Joan Minder/Republik

Müsste ich bewerten, welche Papabili aus meinem politischen Spektrum sich für den Job in der Schweizer Regierung besonders eignen, wäre Beat Jans unter den allerersten. Er will Lösungen gemeinsam erarbeiten, damit sie tragfähig sind, und er ist ausgesprochen anständig in Diskussionen; auch wenn diese heftig werden, verliert er nicht seine gewinnende Art. So habe ich ihn vor vielen Jahren als Mitglied der ziemlich bunten agrarpolitischen Allianz kennengelernt, und dafür schätze ich ihn bis heute sehr.

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Gebrüll von rechtaussen kann Bravheit nicht übertönen

Mittwoch, 08. Januar 2025

Der Abspann am Ende der Podcasts bzw. Aufzeichnungen von Sendungen auf Schweizer Radio spiegeln die verknöcherte Struktur des Besitzers und dessen Hilflosigkeit, wenn es um ein wirksames und gewinnendes  Branding geht – das gerade im bevorstehenden Abstimmungskampf in eigener Sache nicht ganz unwichtig wäre.

Schon schriftlich wirkt der Abspann mit zwei nichtssagenden Akronymen müde. Mündlich ist er noch weniger überzeugend. Die erste Zeile wird unterkühlt vorgetragen, die zweite klingt sogar wie aus einem entfernten Raum.

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Die Infantilisierung der Kommunikation — — —       #SchauHier!  #SchauHier!  #SchauHier!

Mittwoch, 23. Oktober 2024

Die Menschen haben keine Zeit, Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut, die Konkurrenz darum ist enorm – also sag es kurz!

Doch weil das Schreiben von einleuchtenden Slogans und lange nachwirkenden Aphorismen eine Kunst ist, die wenige beherrschen, gerät die Verkürzung meist zur Verflachung: Der Text bleibt an der Oberfläche, bewirtschaftet einen isolierten Aufreger, leuchtet keine Zusammenhänge aus.

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Albert Rösti und Markus Ritter entführt!

Sonntag, 15. September 2024

Eine Moritat rund um die Biodiversität mit wahrem Hintergrund [1]


Irgendwer wird dereinst nur noch Rösti zu essen kriegen – entweder jene, die sie angerichtet haben, oder wahrscheinlicher all jene, die das zuliessen.

1 Die Bombe platzt

«Das Basiskollektiv biodiv hat Albert Rösti, Bundesrat, und Markus Ritter, Bauernverbandspräsident, entführt und wegen wiederholter bandenmässiger Irreführung der Schweizer Bevölkerung verurteilt. Die beiden Promotoren einer Lügenkampagne gegen den wissenschaftlich belegten Verlust der Biodiversität bleiben in Gefangenschaft, bis der Bundesrat beschliesst, die Volksabstimmung vom 22. September über die Volksinitiative «Für die Zukunft unserer Natur und Landschaft» (Biodiversitätsinitiative) auszusetzen und im kommenden Jahr mit einem erläuternden Text des Forums Biodiversität der Schweizerischen Akademie der Natur­wissenschaften neu anzusetzen. Die Kommunikation mit dem Basiskollektiv biodiv ist ausschliesslich über swissinfo.ch der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft möglich.» (mehr …)

WaldLeben? Eine Reise in meine Vergangenheit

Sonntag, 18. Februar 2024

Kürzlich wurde ich unerwartet in meine eigene Vergangenheit entführt. Eine Historikerin und ein Historiker aus dem Kanton Zürich recherchierten Quellen zum Thema Waldsterben und waren dabei auch auf den Verein «WaldLeben» gestossen, den ich zusammen mit ein paar Freunden 1983 gegründet hatte – für die Erhaltung des Waldes überall auf der Welt.

Wir hatten nicht einfach auf dem plötzlichen Medienhype mitreiten und die üblichen Forderungen aus ökologischer Sicht stellen wollen, sondern eigenverantwortliches Handeln fördern und damit Glaubwürdigkeit und Machbarkeit solcher Forderungen an Politik und Wirtschaft beweisen. Unser Ziel war es gewesen, mindestens 100’000 Menschen in der Schweiz zu finden, die sich freiwillig bereit erklärten, ihre Autofahrten auf ein Minimum zu beschränken, ihre Wohnung bis höchstens 19 °C zu heizen – und von den Behörden auf allen Ebenen Taten zu fordern. 

Ob ich Zeit für ein paar Fragen hätte? Ja, sicher; aber ich musste mich erst einmal in meinem Archiv wieder in unsere damaligen Aktivitäten einlesen, es war so viel geschehen für mich seither. Was ich auf Anhieb fand, war ein Ordner mit den Ausgaben der Zeitschrift «Luftpost», die wir von 1984 bis 1990 herausbrachten und die ich redigiert und gestaltet hatte. Und während ich durch die 32 Ausgaben blätterte, staunte ich immer wieder, was wir damals alles getan und geschrieben hatten. Es ging längst nicht nur ums Auto, auch wenn dessen Gebrauch im Zentrum stand. Einzelne Aktionen hatte ich vergessen, auch deren Zahl und Vielfalt. Waldbegehungen zusammen mit Förstern, Tourneen zu Fuss oder mit Ross und Wagen durch die Dörfer, kulturelle Veranstaltungen im öffentlichen Raum, Sternwanderung aus allen Regionen der Deutschschweiz aufs Rütli, Demonstration für saubere Luft in St. Gallen mit 4000 Menschen, kurze Besetzung der Quaibrücke oder von Parkplätzen in Zürich, Vorstösse an Krankenkassen wegen der Folgen der Luftverschmutzung, und so weiter. Grössere Aktionen hatten wir jeweils zusammen mit verschiedenen nationalen und regionalen Organisationen geplant und umgesetzt.

Aus den Wurzeln verschiedenster Gräser

Die Art unseres Tuns hingegen war mir sogleich wieder vertraut. Der Verein «WaldLeben» zählte nur wenige Mitglieder, personell viel wichtiger waren die Menschen in den verschiedenen Regionen der Deutschschweiz, die sich autonom unter dem Motto «WaldLeben» zusammenfanden und aktiv wurden, graswurzelartig und ohne Direktiven von einer Zentrale. Meine Aufgabe als Initiant beschränkte sich auf die Redaktion der Zeitschrift als Mittel der Kommunikation untereinander und gegenüber einer interessierten Öffentlichkeit, auf Koordination soweit gewünscht und auf Gedankenanstösse. Die lose organisierten Gruppen in den verschiedenen Regionen bestanden aus Menschen, die sich aus anderen Zusammenhängen bereits kannten; einige von ihnen hatte ich zu Beginn kontaktiert, weil ich sie von früheren gemeinsamen Tätigkeiten kannte, beim Förderverein für Umweltschutzpapier und Selbstverwaltung, bei der Leser Zeitung, beim M-Frühling und ähnlichen Gelegenheiten.

Trainingslager für die Erderwärmung?

Das anderthalbstündige Gespräch mit meinen beiden Interviewern war auch für mich selber sehr aufschlussreich, weil ihre Fragen wie Scheinwerfer in eine Zeit meines Lebens leuchteten, die längst vergangen schien. Mir wurde etwa bewusst, dass die damals heftige Diskussion um das Waldsterben und die damit verbundenen Aktionen beider Lager (Autoverzicht versus «Mein Auto fährt auch ohne Wald») rückblickend betrachtet als Trainingslager für die weit bedeutendere und heftigere Debatte um die Erderwärmung hätte dienen können. Wir hätten nur am Thema dran bleiben brauchen, als der Hype in den Medien vorüber war. Reportagen über den Zustand des Waldes in der Schweiz und in anderen Ländern wären auch zehn, zwanzig, dreissig Jahre später nötig und interessant geblieben; denn nur weil inzwischen Autos mit Katalysatoren und Industrieanlagen mit Abgasfiltern ausgerüstet werden mussten, waren die Ursachen der Luftverschmutzung und des Waldsterbens ja nicht an der Wurzel behoben worden. Die zunehmende Erderwärmung war für einigermassen informierte Zeitgenossen zwar schon damals als drohendes Hintergrundrauschen wahrnehmbar; aber es schien noch so fern, dass der thematische Bogen vom Waldsterben bis dorthin wohl zu weitgespannt schien, zumal damals die Kräfte schon zur Bekämpfung des sauren Regens sehr beschränkt waren. Hätten wir in unserem damaligen Aktivismus so langfristig gedacht, wie wir es von den Förstern bei den Waldbegehungen eigentlich gelernt hatten, dann hätten wir nicht nochmals von vorne beginnen müssen, als der Streit um die Erderwärmung begann.

Rationierung der Brennstoffe?

Der Verein WaldLeben hatte sich nach ein paar Jahren nicht aufgelöst, weil das Problem in den Medien kaum mehr präsent war, und auch nicht wegen steter Geldknappheit. Wir gaben aus inhaltlichen Gründen auf. 1988 hatten wir die Idee für eine Volksinitiative zur Rationierung von Treibstoffen lanciert und zahlreiche Organisationen zur Stellungnahme und Mitarbeit eingeladen. Bei den Umweltorganisationen stiessen wir allerdings auf schroffe Ablehnung, einzig Greenpeace und die Schweizerische Energie-Stiftung begrüssten unseren Vorschlag. In einer Luftpost-Leserumfrage sprach sich eine knappe Mehrheit für die Idee aus. Auch die Mitgliederversammlung stand mehrheitlich hinter der Idee, beschloss aber, sie mangels Partnern fallen zu lassen. Gleichzeitig beschlossen wir die Auflösung des Vereins, da wir dessen Anliegen inzwischen wenigstens teilweise von anderen Organisationen wahrgenommen sahen. Der Name WaldLeben ging an die seit Jahren aktive Gruppe in Zürich über, die Luftpost wurde als unabhängige Zeitschrift weitergeführt und diente als Organ für den 1986 gegründeten Verein freund/innen/der/erde (Schweizer Mitglied im des Internationalen Verbands Friends of the Earth International), bis sich dieser sich Ende 1990 auflöste. (Später wurde Pro Natura zum Schweizer Mitglied von FOEI).

Brückenschlag von links-grün bis bürgerlich-konservativ

Meine Interviewer fragten, warum für uns das Auto im Zentrum unserer Argumentation gestanden hatte. Ich bin nicht sicher, ob wir uns das damals explizit überlegt hatten; vielleicht hatten wir das einfach intuitiv so entschieden. Jedenfalls ist das Auto, gerade in einem Land der Wohnungsmieter wie der Schweiz, für viele der einzige private Raum, über dessen Gebrauch sie einigermassen frei entscheiden können. Also war das Auto der beste Ansatzpunkt für die freiwillige Selbstbeschränkung, auf der wir aufbauen wollten. Mieter dagegen können bestenfalls ihren individuellen Konsum einer bestehenden Heizung beeinflussen; Werktätige haben so gut wie keinen Einfluss auf den Verbrauch fossiler Energie an ihrem Arbeitsort. 

Weiter wollten sie wissen, ob denn WaldLeben vor allem Menschen links der Mitte angesprochen habe. Nein, ich erinnere mich an gute Begegnungen auf unseren Wanderungen von Dorf zu Dorf und, unter Führung lokaler Förster, durch die Wälder, mit bürgerlich, konservativ eingestellten Menschen, nicht zuletzt die Förster selbst, die schon für ihren Beruf eine konservative Haltung mitbringen müssen, um Bäume mit einer Lebensdauer von fünf oder mehr Menschengenerationen zu hegen und zu schützen. Und ich erinnere mich an ein Treffen mit dem damaligen, oft als stockkonservativ belächelten Bundesrat Alphons Egli, der eine Abordnung von uns empfing, während unsere bunte Truppe mit Ross und Wagen vor dem Bundeshaus wartete. Nach Ablauf der geplanten Viertelstunde wurde Eglis Sekretär nervös und zeigte immer wieder auf die Uhr; doch Egli wischte protokollarische und terminliche Bedenken beiseite: Ich will jetzt mit diesen jungen Menschen reden, denn das ist wichtig, was sie tun – und er entliess uns erst nach einer Dreiviertelstunde. Auch wenn dieser intensive persönliche Austausch hernach in der Politik kaum Folgen zeigte, vielleicht auch, weil Egli nach einer Amtsperiode schon wieder zurücktrat, zeigten diese und viele andere Begegnungen, dass das Waldsterben Menschen in allen Schichten und politischen Lagern betroffen machte, auch einen Freund, der damals der Autopartei nahestand, und auch meinen Vater, der mit den links-grünen Überzeugungen seiner Kinder grosse Mühe hatte, die persönliche Erklärung zur Reduktion seines Autogebrauchs aber unterzeichnete und ernst nahm.

Ja, wenn es uns gelungen wäre, diesen Brückenschlag mit Schwung weiterzutragen, auch über die Sprach- und Landesgrenzen hinaus, dann wäre die Gesellschaft vielleicht besser vorbereitet gewesen für die viel grösseren Herausforderungen durch die Erderwärmung, die heute immer mehr Menschen bewusst werden, viele aber auch hilflos machen. Kann sein, dass wir zu uns zu sehr dagegen sträubten, feste Strukturen für unser Tun zu schaffen. Allerdings glaube ich bis heute nicht daran, dass klar strukturierte und zentral geführte Bewegungen wirklich jene Veränderung bewirken, die notwendig ist, damit immer mehr Menschen lernen, anders miteinander und mit der Welt umzugehen.

PS: 
Menschen anregen und befähigen, selber Schritte zu machen, hat mich immer besonders interessiert, auch später. Bei WaldLeben die «Persönliche Erklärung», in der M-Frühling-Zeitschrift Tips für Alternativen zum üblichen Konsum, bei KAGfreiland die Drehscheibe, über die sich Konsumenten und Bauern leichter finden konnten, bei fair-fish die leicht merkbare Formel «Fisch max. 1x im Monat» und für jene, die es genauer wissen möchten, den Fischtest.
Die Veränderung im Grossen wird nicht nachhaltig sein, wenn sie nicht im Kleinen gelebt wird.

Wiederbevölkerung der Tundra mit grossen Grasfressern, um die globale Erwärmung einzudämmen

Samstag, 30. Dezember 2023

Von all den gross angelegten Plänen zur Abschwächung der verrückten globalen Erwärmung überzeugen mich nur zwei: die Wiederherstellung der Fischbestände bis zu ihrem historischen Reichtum [1] und die Wiederbesiedlung der Arktis bis zu ihrer historischen Fülle. Wenn wir den Planeten nicht mit allen anderen Lebewesen teilen und uns mit dem Platz begnügen, der dem Homo sapiens gebührt, wird unsere Spezies untergehen. Es geht um uns und unsere Umwelt – die Natur und der Planet werden auch ohne uns auskommen.

Während die Quatsch-Wissenschaft Geld verbrennt, um die dritte Kommastelle bekannter Fakten zu entdecken, müssen Forschungspioniere ausserhalb des vorherrschenden Paradigmas ihre Idee mit wenig Geld in der Hand verfolgen, zum Glück gesegnet mit ihrem Verstand. Selbst Forscher in gut entwickelten Kontexten laufen Gefahr, die Werkzeuge für ihre Experimente selber bauen zu müssen, wie ein Artikel in „Nature“ zeigt [2]. Der Homo sapiens hat ein grosses und komplexes Gehirn mit einem der höchsten Energiebedarfe im Verhältnis zum ganzen Körper [3] – wir müssen es einfach nutzen!

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Wölfe, Autoritäre und die Ethik

Donnerstag, 28. Dezember 2023

Wolf Canis lupus (Foto: Tracy Brooks / Wikimedia Commons)

«Deep Ecology» nannte der norwegische Philosoph Arne Næss die Haltung, aus der heraus wir Menschen allem Leben begegnen sollten, im Anerkennen, dass alle Arten in der Biosphäre grundsätzlich gleichberechtigt sind. Dieser Ansatz reicht tiefer als der Veganismus, weil das Bewusstsein der «Verbundenheit im Recht auf ein gutes Leben», wie ich es nenne [1], nicht nur (bestimmte) Tiere einschliesst, sondern alles, was lebt. Mitakuye Oyasin, alle meine Verwandten, wie die nordamerikanischen Ureinwohner sagen: Alles Leben ist miteinander verbunden, und zwar derart, dass es ganz selbstverständlich ist, den Baum, dessen Holz, oder den Bison, dessen Fleisch und Fell man benötigt, um Verzeihung zu bitten. Eine derartig Haltung ist für von der Kolonisierung noch wenig tangierte Indigene eine praktisch-mystische Selbstverständlichkeit. Respekt als grundlegende Haltung beim Nutzen anderen Lebens: so wenig wie nötig und so schonend als irgend möglich.

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Vorwärts zurück zum Winterschlaf?

Freitag, 15. Dezember 2023

Ein Streifenhörnchen beim Winterschlaf
(Foto: Michael Himbeault / Wikimedia Commons)

Vorgestern mochte ich schon am Morgen kaum aus dem Bett, sehr müde und sehr schlapp. Ich stand bloss auf, um meine Katze rauszulassen und mir eine Kanne Tee zu kochen. Abgesehen von weiteren kurzen Aufenthalten für ähnliche Zwecke verbrachte ich den ganzen Tag sehr faul im Bett, bis gestern morgen um elf Uhr. Dann entdeckte ich als Erstes auf Facebook bei Thomas Grünwald ein kleine kleine Ode an den Winterschlaf – und war hellwach: Meine Rede seit Jahren!

Tatsächlich täte es uns und der Menschheit und allen den Planeten mit uns teilenden Lebewesen gut, wenn wir dem Rhythmus der Jahreszeiten folgen und unser emsiges Tun in den kalten Monaten herunterfahren würden. Zumindest in Europa und Nordamerika tut der moderne Homo sapiens, wie ich ihn als Sozialpsychologe kennen gelernt habe, eher das Gegenteil: Er geniesst im Sommer die langen freien Abende, doch wenn der Herbst in den Winter übergeht, verfällt er in hektischen Aktivismus, weil er vor Weihnachten und Jahresende noch so viel erledigen muss, als könnte das nicht bis zum Frühling warten.

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