Die Zürcher Autorin Barbara Lukesch wollte eigentlich einfach einmal ein Buch über das Leben von Bauern von heute schreiben. Ihre Verlegerin brachte sie mit einem absoluten «Spezialfall» in Kontakt: mit Wisi Zraggen, der bei einem Arbeitsunfall beide Arme verloren hatte und den Betrieb dennoch weiter leitet. Warum gerade ihn? Kann man denn das Leben von Schweizer Bauern ausgerechnet an einem Extrembeispiel darstellen? Was hat die Verlegerin geritten?
Ich nehm also das Buch mit dem Untertitel «Die unglaubliche Geschichte des Wisi Zraggen» zur Hand und denke mir: Aha, hier erfahre ich, was dem Wisi Furchtbares passiert ist und wie er trotz allem Bauer geblieben ist. Das ist sozusagen der rote Faden, an welchem die Autorin die Freuden, Probleme und Veränderungen auf dem Bielenhof in Erstfeld nachzeichnet, den Familie Zraggen seit vier Generationen bewirtschaftet.
Doch die Familiengeschichte selber ist nur der Rahmen, in welchem Wisis Unfall ein hartes Schlaglicht auf die Lage der Landwirtschaft in der Schweiz wirft. Die Entscheide, die nach dem harten Einschnitt nötig werden, damit Wisi überhaupt daran denken kann, den Hof vom Vater zu übernehmen, müssen früher oder später auch «normale» Bauernhöfe treffen.
Dass Wisi nie mehr wird Kühe melken können und dass der Bielenhof deshalb auf Mutterkuhhaltung umsteigt, also auf die Produktion von Fleisch und Zuchttieren, ist an sich nichts Ungewöhnliches; viele Bauern in der Schweiz und in Europa steigen angesichts viel zu tiefer Milchpreise aus der Milchproduktion aus und versuchen, ihren Betrieb mit andern Produkten über Wasser zu halten. Dass Wisi die Steuerung der diversen Fahrzeuge auf Fussbetrieb umbauen lassen muss, ist zwar speziell; aber jeder Bauer muss die Mechanisierung seines Betriebs periodisch anpassen. Und dass Wisi sich freut über den Wunsch seines Ältesten, Bauer zu werden und den Betrieb dereinst zu übernehmen, spiegelt die Sorge und den Stolz jedes Bauern.
Wisi ist insofern ein besonderer Mensch, als viele in seiner Lage sich wohl entschieden hätten, aufzugeben und einen andern Beruf zu erlernen, so gern sie auch Bauer bleiben möchten. Wisi aber verfügt über einen unglaublichen Willen und eine Frohmut, die einen aus jeder Foto anrührt. Und er hat das Glück, in einer Familie aufgehoben zu sein, die ihn trägt, die Alten wie die Jungen, selbst bei Unternehmungen, die den andern zunächst verrückt erscheinen. Insofern erzählt das Buch wirklich seine Geschichte.
Die hohe Kunst der Autorin ist es jedoch, uns zugleich auch die Geschichte der Landwirtschaft der letzten zwei Jahrhunderte näher zu bringen – und zwar mit Gewinn nicht nur für jene, die bisher wenig darüber wussten; auch Kenner werden dieses Buch erst nach dem letzten Satz zur Seite legen und wohl wie ich mit leichtem Bedauern, dass der Text schon endet.
Die hohe Kunst der Verlegerin Gabriella Baumann-von Arx hingegen besteht darin, einer neugierigen Autorin die bestmögliche Adresse genannt zu haben. Denn «Bildung ist, wenn man weiss, wo nachschlagen», wie meine verehrte Deutschlehrerin zu sagen pflegte.
Barbara Lukesch: «Bauernleben». Wörterseh Verlag. Gockhausen ZH, 2016. 218 Seiten, gebunden. CHF 39.90, ISBN 978-3-03763-074-7