Als ich mir «Die Nordsee» zur Rezension senden liess, war ich auf ein eigenartiges Gefühl gefasst, das meine Lektüre am Mittelmeer begleiten würde. Der Umstand, dass ich an dessen nördlichstem Strand lebe, vermochte das Fremde, das mich beim Lesen umgab, nicht zu mildern. War ich überhaupt schon einmal an der Nordsee gewesen? Ja, im Sommer vor einem Jahr, anlässlich eines Kongresses in Newcastle, wo ich einen freien halben Tag nutzte, um ans Meer zu gehen. Mag sein, dass mich die soziale Trübsal dieser von Londons Elite vernachlässigten Industrie- und Hafenstadt im Nordosten Englands bereits derart eingestimmt hatte, dass ich das Meer nicht anders als grau und abweisend wahrzunehmen vermochte, flüchtige Eindrücke von früheren Kurzaufenthalten in Bremerhaven und Brunsbüttel bestätigend. Doch halt: die niederländische Küste gehört ja ebenfalls zur Nordsee, und Fahrradausflüge ihr entlang hinterliessen in mir ein weitaus einladenderes Bild.
Also. Der in London aufgewachsene Anthropologe und Journalist Tom Blass lebt mit seiner Familie in Hastings, was heisst: am Ärmelkanal und damit bestenfalls am Südrand der Nordsee. Er wird schon wissen, warum, denken Sie? Doch warum treibt ihn denn eine nachlesbare Faszination auf Entdeckungsreisen rund um die Nordsee? Ja, das Meer…
Blass weiss inzwischen so vieles über diese merkwürdige Ausbuchtung des Nordostatlantiks, dass er wohl eine ganze Serie von Büchern damit füllen könnte, ein heimlicher Wunsch von mir, denn langweilig würde es mir gewiss nicht bei all den Geschichten, die er von seinen Exkursionen mitgebracht hat; von den einst ersten Seebädern, einige davon mit bis heute nachklingenden Namen; von Handelshäfen vergangener wie kommender Grösse; von Schifffahrtsrouten, die einen halben Kontinent und diesen schon lang mit der Welt verbanden – sogar die alten Römer wagten sich des Handels wegen in den dunkeln Norden; und von Kriegen zwischen den Anrainerstaaten, die zur Zerstörung ganzer Städte und langjähriger Zusammenarbeit führten, bis endlich die Europäische Union allen ein gemeinsames Haus errichtete…
Bass berichtet von scheinbar fernen Küsten und Inseln, vom Leben einfacher Fischer, Bauern, Schiffbauer und Händler, die im Lauf vieler Generationen aus einer oft garstigen Umwelt voller Wetterunbill das Beste für sich zu machen gelernt hatten. Er besucht sie wie ein freundlicher, vermeintlich etwa naiver Reporter, füllt sich die Taschen mit ihren Landschaften und Geschichten und breitet den mitgebrachten Schatz munter erzählend vor uns aus. Ein anderer hätte Fotos geschossen, um seine Geschichten zu illustrieren; Blass berichtet einfach, was er erlebt hat und was er an Hintergründen in Erfahrung zu bringen vermochte; eine gar kleine Karte der Nordsee muss genügen; die Fantasie ist reichlich genug angefacht, sich beim Lesen eigene Bilder auszumalen.
Tom Blass: «Die Nordsee. Landschaften, Menschen und Geschichte einer rauhen Küste». Übersetzt aus dem Englischen. mareverlag, Hamburg, 2019, 352 S., gebunden, ISBN 978-3-86648-270-8