Sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen gehört seit langem zu meinen beliebten Wortwendungen. Als Bub verschlang ich die legendären Geschichten von oder über Münchhausen; dieses eine Bild hat sich mir früh eingeprägt, viel nachhaltiger als etwa des Edelmanns filmreifer Ritt auf der Kanonenkugel: Mit der Kraft des eigenen Willens kann es also möglich sein, einer ausweglosen Situation zu entkommen, wenn auch kaum so plakativ wie der Lügenbaron.
Mehr wusste ich nicht über diese wohl (selbst-) erfundene Figur, bis ich von Tina Breckwoldts Buch hörte. «Die ganze Wahrheit über Münchausen & CO.»: Ja, bitte, das wollte ich endlich wissen! Lesend merkte ich bald, dass die Geschichte nicht ganz so einfach ist. Irgendwie gab’s den merkwürdigen Baron tatsächlich und irgendwie doch nicht – oder gar in der Mehrzahl. Auch das mit den Lügen ist mehrdeutig: Ja, er (wer?) hat geflunkert, aber nicht wirklich gelogen. Vor allem hat er, wer auch immer, spannende Geschichten aus seinem Leben erzählt, einfach so, um eine gesellige Runde zu unterhalten. Oder es waren andere, die sich seiner Geschichten bemächtigt haben, um sie und sich selbst zum Besten zu geben, gar in Buchform, ein Plagiat avant la lettre, was den echten Urheber in Rage versetzt haben soll; denn für die breitere Öffentlichkeit habe er gar nicht erzählen wollen, er, der Landadlige mit einer politisch vereitelten Karriere am Zarenhof, ein Kauz nach späterer Rückkehr auf sein niedersächsisches Landgut, erst glücklich verheiratet, doch am Ende unglücklich geschieden und verarmt, während andere sich ein mehr oder weniger gütliches Leben einrichteten, auf Kosten anderer und gelegentlich auch seiner.
Breckwoldt führt durch das Dickicht der noch lange nach des Barons Ableben wuchernden Geschichten und versucht zu klären, welche Version von wem stammt und welcher Erzähler denn nun mehr «Münchhausen» gewesen sei. Eine spannende und vergnügliche Spurensuche durch halb Europa, von England bis Russland, im 18 Jahrhundert und darüber hinaus, bis zur jüngsten, durchaus ernsthaften Geschichte der Rezeption und der kommerziellen Nutzung eines offenbar unsterblichen Phänomens. Lehrreich bis zu letzten Seite und mit zahlreichen Quellen und Bildern belegt – ohne dass dadurch der Schalk und damit der tiefere Sinn der Legenden in den Hintergrund gedrängt würde. Wer ein wenig Geduld und historischen Wissensdurst zum Lesen mitbringt, wird dieses Buch köstlich finden und schätzen.
Tina Breckwoldt. «Die ganze Wahrheit über Münchhausen & Co.». Benevento Verlag, Salzburg, 2020. Gebunden, 283 Seiten, ISBN 978-3-7109-0102-7