Ich hatte mich bereit erklärt, als psychologisch ausgebildeter Verhaltensforscher beobachtend an einem Experiment zum Umgang mit Extremgefahren teilzunehmen. Die übrigen etwa zwanzig Personen, mit denen ich gemeinsam in einen grossen unterirdischen Raum geführt wurde, waren nach Alter und Geschlecht gut gemischt. Vier von ihnen führten etwas Material mit, das sie auf einem Tisch an einer Seite des Raums aufbauten, während sie uns erklärten, sie seien Chemiker und Gefahrenexperten und würden nun das Experiment starten.
Das Experiment, zu dem wir uns alle schriftlich einverstanden erklärt hatten, bestehe darin, herauszufinden, wie wir uns in der Gegenwart eines hochgradig empfindlichen und extrem starken Sprengstoffs im selben Raum verhalten werden, erfuhren wir. Wir müssten unbedingt vermeiden, laut zu reden oder Erschütterungen von Mobiliar und Boden zu verursachen. Den Druck einer Detonation im geschlossenen Raum würden wir nämlich kaum überleben. Nach sechs Stunden werde das Experiment beendet und die Tür wieder geöffnet.
Nun begannen die beiden Chemiker mit der Herstellung des Sprengstoffs, wie die Gefahrenexperten erklärten. Es handle sich um eine Mischung aus drei relativ unproblematischen Komponenten, die erst ab dem Moment des direkten Kontakts miteinander explosiv würden. Ab sofort gelte daher: möglichst nicht miteinander sprechen und wenn, dann nur flüsternd, Möbel nur sachte berühren, Schritte dämpfen und beim Gang zur Toilette die Tür nur zuschieben, aber nicht bis ins Schloss.
Ich setzte mich an einen der zwanzig kleinen Tische, die im Halbkreis gegenüber der verspiegelten Wand aufgestellt waren; dass man uns von jenseits des Spiegels unsichtbar beobachten würde, war mit klar, da ich selber schon Stunden auf der anderen Seite von One-way-screens verbracht hatte. Gemäss meinem Auftrag begann ich, in einem Heft zu notieren, was ich im Raum beobachtete, die Arbeit der Chemiker und der Experten, das Verhalten der übrigen Teilnehmer, von deren Hintergrund mir mangels Vorstellungsrunde nichts bekannt war, die seltenen und vorwiegend nonverbalen Interaktionen zwischen den Menschen im Raum. Einige machten sich Notizen, ähnlich wie ich, andere sassen da, schauten sich um oder an die Decke oder zu den wenigen schmalen Fensterschlitzen hoch oben an einer der schmalen Seiten des Raums. Hin und wieder ein Seufzen, ein leises Hochschnupfen von Luft, ein unterdrücktes Hüsteln, das ungewöhnlich langsame Rieseln von Mineralwasser in ein Glas. Gelegentlich stand jemand auf und ging auf leisen Sohlen sehr behutsam im Raum auf und ab, wie in einer Achtsamkeitsmeditation. Nach etwa anderthalb Stunden wurden einige etwas mutiger und führten, bei aller Vorsicht, kleine Pantomimen auf, die andere zum Schmunzeln oder gar zum verdeckten Lachen provozierten. Ich notierte mir nach alter Gewohnheit in einer Zeittabelle das Tun und Lassen jedes Individuums in Stichworten, als Grundlage für einen ausführlichen Bericht nach Ende des Experiments.
Es war rasch klar, dass niemand im Raum etwas wagen würde, was zur Explosion führen könnte. Die Rahmenbedingungen des Experiments waren so unmissverständlich gestaltet, dass die Situation nur bei absolutem gegenseitigen Vertrauen überlebt werden konnte. Ich begann darüber nachzudenken, was es denn in unserem realen Alltag an Bedingungen bräuchte, damit sich ein derart hohes Engagement für eine gemeinsame Zukunft wie von selber einstellen würde. Die handfeste Bedrohung durch Kriege, zunehmende soziale Ungerechtigkeit und absehbare ökologische Katastrophen haben bisher jedenfalls kein derartiges Verhalten bewirken können.
Als ich erwache, wird mit bewusst, dass ich nicht als Beobachter ins Experiment eingeladen worden war, sondern als Versuchskaninchen, genau so wie alle andern auch.
Billo, Traum, 8. Januar 2024
Bild: Explodierende Glühlampe (Stefan Krause / Wikimedia Commons)