Schlecht rasiert oder: Tschechows Rache

Es gibt Tage wie heute, an denen ich mich nicht rasiere, manchmal mit Absicht und manchmal einfach so, wie ich mir einbilde – obwohl ich es doch besser weiss: Ich fürchte vernichtende Kritik an meinem Unvermögen, die Stoppeln so akkurat zu stutzen, dass selbst die zarteste Hand keinen Widerstand spüren könnte, würde sie mich denn streicheln wollen.

Eine Obsession, die mich seit dem ersten Bartwuchs peinigt, eines kleinen Satzes wegen, in welchem sich einer der russischen Schriftsteller, deren Bücher ich als Jugendlicher verschlang, über die damals anscheinend immer schlecht rasierten Provinzbürokraten lustig machte. 

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«Tschechows Rache (undatiert)
Jeden Morgen, wenn ich vor dem Spiegel und mit der Hand den Effekt der Rasur prüfe, blickt mir Anton Tschechow kritisch über die Schulter: Wehe, du kommst daher wie ein schlecht rasierter russischer Bürokrat!
Er muss von Bürokraten des Zaren Furchtbares erlitten haben, dass seine Rache sogar mich noch heute trifft, nur weil ich als Jugendlicher davon las…»

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Viele Jahre später versuchte ich, mich aus der allmorgendlichen Zwangsvorstellung zu befreien, ich könnte als schlecht rasiert auffallen. Um der Sache auf den Grund zu gehen, begann ich, nach der Quelle zu suchen: war’s bei Puschkin, Dostojewski, Turgenjew, Tschechow, Gorki…? Ich durchblätterte, was noch an einschlägigen Büchern in meinem Regal stand. Sinnlos. Ich gab eine Suchfrage ein: «Russischer Schriftsteller schlecht rasierte Bürokraten». Nichts. Selbst ein Aufruf hier an meine Freunde führte auf keine Spur.

Und wie ich dieser Tage meine Bibliothek aus ganz anderen Anlass durchforste: um sie zu verkleinern im Hinblick auf einen möglichen Umzug, fällt mir wie zum Hohn diese undatierte Notiz in die Hand, die ich vor Jahren eilig auf einen herumliegenden Zettel notiert haben muss, vielleicht noch mit von der Rasur feuchten Fingern, hastig, als hätte mich das erlösen können. Jetzt starrt er mich an, der Fetzen Papier, höhnisch, will mir scheinen. War ich mir damals sicher gewesen, den fatalen Satz bei Tschechow wieder zu finden? Oder hatte ich seinen Namen nur als pars pro toto notiert, als Platzhalter, weil ich in Eile war?

Nein, heute definitiv keine Rasur!

Billo, 25.03.2022

Bild: Shaving made easy, 1905 (Wikimedia Commons)

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