Reale Fabelwesen mit vertauschten Elternrollen

«Naturkunden» nennt sich eine von Judith Schalansky herausgegebene Reihe kleiner feiner Bücher im Berliner Mattes & Seitz Verlag, in der im Lauf der vergangenen zehn Jahre schon rund hundert Tierarten vorgestellt worden sind, darunter auch etliche Wassertiere. Der 2023 erschienene Band 95 ist den Seepferdchen gewidmet, genauer: ihnen und dem Leben und Geschehen in den Meeren um sie herum. Die Wiener Schriftstellerin und Evolutionsbiologin Andrea Grill nimmt uns mit auf eine faszinierend erzählte Reise durch die Zeit und rund um den Globus.

Seepferdchen sind weder Fabelwesen und noch eine Gattung jenseits gewohnter biologischer Einordnung, sondern schlicht Fische. Sie gehören zur Grossgruppe der Barschartigen und dort zur Familie der Seenadeln, Anders als die Gattung der Seenadeln haben Seepferdchen im Lauf der Evolution ihre charakteristische Kopfform erhalten, die ihnen offenbar den Fang ihrer Beute erleichtert, auf deren Vorbeidriften sie warten, während sie in Seegraswiesen oder Algenwäldern getarnt sich mit ihrem Ringelschwanz an einem Stengel festhalten. Mit ihrer Schnauze, die nichts anderes ist als ein Saugrohr, verleiben sie sich alles ein, was ihnen an kleinsten Krebschen durch die Strömung zugetrieben wird, Tausende jeden Tag; denn ihr magenloses Verdauungssystem braucht ständig Nachschub.

Mit ihrer besonderen Form und Fortbewegungsweise haben Seepferdchen die Fantasie von Seefahrern und Künstlern schon immer angeregt; die fantastischen Meeresungeheuer auf alten Weltkarten zeugen davon. In Wahrheit sind diese Tierchen meist nur ein paar Zentimeter gross, das grösste gefundene Exemplar mass nicht mehr 30 cm. Zudem sind sie friedlich und verstecken sich lieber, weshalb sie schwer zu entdecken sind, wie die Autorin bei unzähligen Tauchgängen selber erfahren musste. So ist es auch schwierig, die Entwicklung ihrer Bestände zu bestimmen und festzustellen, ob eine Arten gefährdet oder gar ausgestorben ist. Derzeit sind 57 Arten von Seepferdchen sind derzeit bekannt und beschrieben, einige davon auch im Anhang dieses Buchs. Ganz zu schweigen von den vielen mehr oder weniger naturnahen Arten von künstlichen Seepferdchen, die alle möglichen Gegenstände zieren, wovon einige Beispiele im Buch vorgestellt werden. In der Natur dürften noch einige weitere Entdeckungen auf uns warten; denn etliche der bekannten Seepferdchenarten sind erst in letzter Zeit entdeckt worden, vor allem die besonders schwer zu sichtenden Zwergseepferdchen.

Dass es Seepferdchen heute schwerer haben, liegt allerdings auf der Hand. Ihre seegras- oder algenreichen Habitate im seichten Wasser warmer Meeresküsten werden durch mannigfaltige menschliche Übernutzung und Abwässer immer mehr beeinträchtigt. Zudem sterben jedes Jahr rund 40 Millionen Seepferdchen als Beifang einer rücksichtslosen Fischerei, während viele ihrer Artgenossen für chinesische Wundermittel ihr Leben lassen oder als besonders begehrte Insassen ferner Aquarien enden. Seepferdchen gehörten schon zu den ersten Gefangenen, als vor bald zweihundert Jahren in England die Mode aufkam, sich ein Stück Unterwasserwelt im eigenen Haus zu halten; der Gerechtigkeit halber muss aber gesagt werden, dass ernsthafte Aquarianer damals viel zum Verständnis von biologischen Systemen, Vielfalt und Lebensräumen beigetragen haben. 

Heute stammen Seepferdchen für Aquarien und chinesische Wunderpülverchern zunehmend aus Zucht. Kein leichtes Unterfangen; die Fortpflanzung von Seepferdchen ist eine heikle Geschichte. Männchen und Weibchen müssen sich schon eine Weile lang kennen, und zwar so gut, dass sie Synchronschwimmen perfekt beherrschen; anders ist eine erfolgreiche Begattung nicht zu haben. Danach geht’s ganz erstaunlich weiter: Das Weibchen legt die befruchteten Eier in die Bruttasche ihres Partners, der die bis zu 2000 Eier etwa zehn Tage lang austrägt und seine Nachkommen schliesslich lebend gebärt. Weil die Paarung so anforderungsreich ist, leben viele Seepferdchenarten monogam, mit von der Autorin humorvoll präsentierten und nicht gerade seltenen Ausnahmen.

Das für interessierte Laien und auch als kleines Präsent sehr empfehlenswerte Buch ist nicht zuletzt ein flammendes Plädoyer für mehr Rücksicht und Schutz für den marinen Lebensraum. Es schliesst auch die Forderung ein, die extrem schädliche Grundschleppnetzfischerei endlich ganz einzustellen – die betrifft zwar die Seepferdchen nicht direkt, aber das hochkomplexe Lebensnetzwerk im Meer. Die Autorin kommt im Laufe ihrer spannend geschriebenen Monographie ein paarmal auf andere Arten zu sprechen – auch auf die nächsten Verwandten der Seepferdchen, die nicht minder eigenartigen Seenadeln –, und macht so immer wieder den grösseren Zusammenhang deutlich. 

Andrea Grill: «Seepferdchen. Ein Portrait». Mit Illustrationen von Falk Nordmann. 143 Seiten, gebunden. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2023. Matthes & Seitz Berlin. ISBN 978-3-7518-4002-6

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