Gefangen auf Inseln

Eine Frau lebt allein mit ihren fünf Kindern auf einem kleinen Bauernhof abgelegen in der Toscana. Der auch ihr gegenüber gewalttätige Mann kam in den Knast, und weil er in einem Wutausbruch einen Gefängniswärter umgebracht hat, wurde er in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegt. Hier besucht in seine Frau gelegentlich, mit zubereiteten Mahlzeiten im Gepäck, eine weite Reise mit Bahn und Schiff, für die sie sich in aller Frühe aufmachen muss, um spät am selben Abend wieder zuhause zu sein. Eine Reise aber auch,  die ihren anstrengenden Alltag unterbricht und sie das Meer sehen lässt.

Im gleichen Gefängnis, das sich draussen auf einer Insel befindet, sitzt unter vielen anderen Häftlingen ein junger Italiener wegen terroristischer Aktivitäten. Sein verwitweter Vater, ein vorzeitig pensionierter Philosophieprofessor, besucht ihn und versucht, die Veränderung zu verstehen, die seinen humanistisch erzogenen Sohn in den bleiernen Siebziger Jahren zu einer Politik der Gewalt gebracht hatte, der ein kleines Mädchen zum Opfer gefallen war, und der doch noch im Gefängnis nur vom «Kampf für die Revolution» sprach.

Bei einem Besuch fällt ihre Rückfahrt mit dem Schiff wegen Sturm aus. Die Bäuerin und der Intellektuelle müssen auf der Insel bleiben, in der Obhut eines alten Gefängniswärters, der sie zu sich und seiner Route zum Nachtessen einlädt und für die Nacht notdürftig in einem schäbigen, kaum möblierten Gebäude unterbringt. Die eigenartigen, dichten Szenen dieser Nacht sind der Höhepunkt dieses 2012 erschienenen und von der Kritik gefeierten Romans. Spröde, zögerlich kommen sich die beiden im Austausch ihrer Nöte näher, öffnen sich einander. Die Überfahrt in der nächsten Nacht verbringen sie umständehalber zu zweit in einer Kabine und lieben sich.  Anderntags trennen sie sich auf ihren Heimreisen. Er ruft sie später an, doch sie beendet die Geschichte, bleibt bei sich. Als sein Sohn entlassen wird und zurückkehrt, gibt es keine wirkliche Verständigung. Gefangene auf ihren Inseln…

In der Erinnerung spüre ich, wie ratlos mich dieser Roman zurückgelassen hat, einmal abgesehen von der noch bestärkten Überzeugung, dass das Wegsperren von Menschen die Zerstörung, derer sie sich schuldig gemacht haben mögen, nur noch grösser macht, in ihnen selber und in ihren Angehörigen, die als zumeist Unschuldige ohne Gerichtsverfahren mitbestraft werden. Resozialisierung beschränkt sich dabei wohl eher darauf, Menschen durch die Dauer der Strafe auf die Furcht vor erneuter Strafe zu konditionieren, mit keineswegs durchschlagendem Erfolg, wie wir wissen; kein Wunder nach vollendeter sozialer und ökonomischer Zerstörung…

Die sanfte, poetische Wucht dieses zweiten Romans einer Trilogie liegt – soweit ich das anhand der deutschen Übersetzung beurteilen kann – weniger in einer besonderen sprachlichen Eleganz, sondern in der liebevollen Eindringlichkeit des genauen Beobachtens einer Geschichte, die mir kaum je widerfahren wird, aber so sehr jeden Zweifels enthoben ist, dass ich nicht bloss las, sondern erlebte, als geschähe es unmittelbar vor meinen Augen. Der Zorn über den Alltag, der den Menschen in dieser Geschichte angetan wurde, stellt sich erst nach dem Lesen ein, zuvor muss er mir unbemerkt unter die Haut geschlüpft sein.

Francesca Melandri: «Über Meereshöhe».Aus dem Italienischen von Bruno Genzler. 208 Seiten, Taschenbuch oder E-Book. Wagenbach-Verlag, 2019. ISBN 978-3-8031-2812-6

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