Archiv für die Kategorie ‘Literatur’

Erinnern, vergessen, manipulieren

Sonntag, 02. Juni 2024

Es gibt Menschen, die eher dazu neigen, bestimmte Erlebnisse vergessen zu wollen. Und es gibt jene, die alles festhalten wollen, um es nicht zu vergessen. Ich gehöre zur zweiten Gruppe, und manchmal leide ich darunter. Denn je mehr  ich festgehalten habe, desto schwerer trage ich daran.

Das kann auch ganz physisch verstanden werden: in Form von Archivschachteln randvoll mit Briefen, Entwürfen, Notizen, ein Tausende von Seiten umfassendes Tagebuch, in fremden und eigenen Hand- und Maschinenschriften, bei jedem Umzug treppab, treppauf geschleppt und wieder chronologisch in die Regale eingeordnet. Dieses Frühjahr hatte ich mir die ersten zwanzig Jahrgänge im Versuch vorgenommen, Unwichtiges auszusortieren, also alles, was selbst mich in zehn Jahren nicht mehr interessieren würde. Wirklich viel war es nicht, was ich zum Altpapier gab. 

Dann kam Besuch, der grosse Tisch musste leergeräumt werden, und seither stockt das Vorhaben, für fast zwei Monate schon. Ich ahne den Grund; es warten besonders üppige Jahrgänge auf mich, und wieder werde ich vieles wenigstens anlesen müssen, um über dessen Verbleib im Archiv entscheiden zu können. Und wieder werde ich auf Erinnerungen stossen, die mir gänzlich entschwunden waren oder die sich anders in mir festgesetzt hatten – ja, genau darum hatte ich dies alles einst aufgeschrieben und aufbewahrt: um mich davor zu bewahren, Erlebnisse von mir selbst zu vergessen oder falsch zu erinnern.

Erst nach einer mehrjährigen Übergangszeit, in der ich fast nur noch auf dem Computer geschrieben, aber alles ausgedruckt und im Archiv abgelegt hatte, vertraute ich ganz auf meine Speicherplatten und war sehr froh, Einstiges durch einfache Suche direkt auf meinen Bildschirm holen zu können; denn wann hätte ich die Zeit gefunden, in meinen Archivschachteln nach etwas zu suchen? In den letzten dreissig Jahren hab ich nur mehr wenige dieser Schachteln gefüllt, hatte den intimen Umgang mit ihnen weitgehend verloren; wie hätte ich da rasch finden können, was mir im elektronischen Archiv oft auf den ersten Eingabebefehl gelingt? 

Auch die elektronisch gespeicherte Erinnerung hat freilich ihre Tücken. Weil es so einfach ist, bestimmte Dinge aktiv abzurufen, gewöhnt man sich daran, dieses Archiv auch nur auf diese Weise zu nutzen. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, mich mal einen Tag lang hinzusetzen und einfach durch alte Mailkorrespondenzen zu blättern. Beim papierenen Archiv hingegen bleibt mir gar nichts anderes übrig, als Blatt um Blatt zu lesen, wenn ich sicherstellen will, nichts zu übersehen; ich suche also vergleichsweise passiv, offen für das, was mir begegnet.

Während ich an meiner Art des Festhaltens von Erlebtem in all den Jahrzehnten nichts verändert habe, einmal abgesehen von den technischen Hilfsmitteln des Schreibens, von der Hand- zur Maschinenschrift und zum Computer, hat sich damit doch die Art, wie ich meine Archive nutze, radikal verändert. Verändert das auch meine Erinnerungen? Ist das, was ich auf Papier festhielt, weniger präsent, dann aber in Gänze, wenn ich ihm wieder begegne, während elektronisch Gespeichertes beim Suchen häufiger mal zum Vorschein kommt, aber nur als kontextloses Bruchstück, als Treffer unter anderen auf einer Liste? 

Solche noch recht harmlose Gedanken gingen mir durch den Kopf nach dem Hören der faszinierenden Reportage von Eva Wolfangel [1] über das Erinnern in Zeiten von Virtual Reality, die abgrundtief existenzielle Fragen aufwirft: Kann ich mithilfe der neusten Technik sicherstellen, mich an alles zu erinnern, nichts zu vergessen? Kann ich im Gegenteil dank solcher Technik Dinge vergessen, die mich belasten? Und von wem und wozu könnten solche Wunderdinge missbraucht werden? Wenn unser natürliches Erinnerungsvermögen schon selektiv und unzuverlässig funktioniert: wie anfällig sind wir denn für Manipulationen, die uns falsche Erinnerungen eingeben? Und schliesslich: Wer wäre denn in der Lage, sich die lückenlosen Aufzeichnungen des selber Erlebten jemals anzuschauen? Und wenn: wozu könnte das gut sein? Ist es nicht klüger, die Unvollkommenheit unserer Erinnerung als Teil unseres Seins anzunehmen und als Dank dafür nicht noch manipulierbarer zu werden?

Ich bin jedenfalls froh, dass mich keine neue Technik des Festhaltens reizt und ich vollkommen autonom entscheiden kann, was in mein Archiv gehört und was nicht, und dass ich es, sollte ich einst ganz den Überblick verlieren, es notfalls auch einfach vernichten kann.

[1] Hörenswert: «Manipuliertes Gedächtnis» von Eva Wolfangel. Mithilfe von Virtueller Realität und Künstlicher Intelligenz lassen sich Erinnerungen heutzutage so einfach fälschen wie noch nie.
Übrigens: «Reportagen» ist eine echt gut gemachtes Zeitschrift, die man auch abonnieren kann; hab ich jetzt endlich gemacht.

Ein ganz unerwarteter Mord

Samstag, 09. März 2024

Hinter dem irreführenden Titel verbirgt sich ein kluger Kriminalroman – mit mittelmässigen Italienischkenntnissen flüssig zu lesen, aber Obacht: Suchtgefahr! – mit einer nicht unwahrscheinlichen Geschichte, die in der fiktiven emilianischen Stadt Valdenza* spielt, in einem witzigen Stil erzählt wird und gleichzeitig ernste Themen der italienischen Gesellschaft und insbesondere der Beziehungen zwischen Männern und Frauen berührt. In ihrem ersten Kriminalroman schlüpft die Autorin in die Rolle des männlichen Erzählers Ricco, in dessen kleiner Bar, einer ehemaligen Molkerei, man sich morgens zum Kaffee trifft und abends nach der Arbeit feiert. Es ist ein einfaches, ruhiges Leben, das er geniesst und das ihm erlaubt, die Menschen mit einem liebevoll-ironischen Blick zu beobachten, auch sich selbst.

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Lehren aus dem Fall Moro

Mittwoch, 20. Dezember 2023

Die «anni di piombo», die bleiernen 1970er Jahre, waren in Italien, wie in Deutschland, geprägt vom Zusammenbruch alter Konventionen in den Studenten- und Arbeiterrevolten (1968) und von einer zunehmend härteren Auseinandersetzung zwischen der Neuen Linken und der Reaktion der herrschenden Kreise, bis hin zu offener Gewalt sowohl der Staatsorgane wie auch der militarisierten Aktionsgruppen (Brigate Rosse, RAF und andere). Italien ist ein relativ junger Staat, in den 1860er Jahren von den piemontesischen Truppen bis ganz in den Süden «vereinheitlicht», was zumindest in Sizilien [1] das Schicksal vieler Menschen eher verschlechterte; die Bruchlinien zwischen Norden und Süden bestehen bis heute, auch die neue republikanische Verfassung nach dem Ende des Faschismus’ konnte sie nicht wirklich kitten.

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Poet, Botaniker, Weltenreisender

Dienstag, 19. Dezember 2023

Im Büchergestell meines Vaters standen nebst einigen Romanen (ich erinnere mich an Namen wie Salvador de Madariaga, Norman Mailer, Herman Melville oder Ernst Jünger), einem dicken  siebenbändigen Schweizer Lexikon, diversen Militaria und Sachbüchern zur Weltgeschichte auch einige Klassiker in gediegenem Einband, von Dante bis Chamisso. Interessiert haben mich als Junge nur das Lexikon und ein grosser Atlas. Im Verlauf der Jahre hab ich mir meine eigene Bibliothek zusammengestellt, und als Vater und viel später auch Mutter gestorben waren und die Wohnung aufgelöst werden musste, war das alte Büchergestell ein Fall für die Entsorgung, die Bücher so gut wie die schönen Ganzholzregale – wir Kinder und unsere Kinder waren längst eingerichtet in unseren Wohnungen, in denen der Platz längst vergeben war, was auch für die Brockenhäuser galt. Ja, hätte Vater dem Drängen seiner Frau nachgegeben und ein Haus für die Familie gekauft, anstatt ängstlich zu rechnen, dann stünde die Bibliothek jetzt mitsamt dem ganzen Mobiliar in einem Haus, in das wir alle immer wieder gerne zurückkehren würden…

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Reale Fabelwesen mit vertauschten Elternrollen

Montag, 11. Dezember 2023

«Naturkunden» nennt sich eine von Judith Schalansky herausgegebene Reihe kleiner feiner Bücher im Berliner Mattes & Seitz Verlag, in der im Lauf der vergangenen zehn Jahre schon rund hundert Tierarten vorgestellt worden sind, darunter auch etliche Wassertiere. Der 2023 erschienene Band 95 ist den Seepferdchen gewidmet, genauer: ihnen und dem Leben und Geschehen in den Meeren um sie herum. Die Wiener Schriftstellerin und Evolutionsbiologin Andrea Grill nimmt uns mit auf eine faszinierend erzählte Reise durch die Zeit und rund um den Globus.

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Tunnelbau ohne Rücksicht auf Verluste

Dienstag, 05. Dezember 2023

Peter Beutler hat es erneut getan – unermüdlich erzählt er wahre Begebenheiten als Kriminalromane und erschreibt sich so die Freiheit, auf der Grundlage des gesicherten Materials mögliche Puzzleteile zu erfinden für das, was noch aufzuklären bleibt oder wegen irgendwelcher höherer Interessen vielleicht gar nie geklärt werden soll. Ich habe Beutlers «Balance überm Abgrund geheim gehaltener Fakten» schon früher bewundert; vermutlich nur deswegen habe ich meinen jahrzehntealten Plan, das spätere Schicksal der plötzlich und spurlos aus der Geschichte der Spätantike verschwundenen Vandalen zu erfinden, noch nicht ganz aufgegeben.

Fünfzehn Romane hat der pensionierte Chemiker und Gymnasiallehrer  in den vergangenen dreizehn Jahren publiziert, jeder sein Papier und die Lesezeit mehr als wert. Sein neustes Werk ist eine grandiose Räuberpistole, die mir mir keine Ruhe liess, bis ich sie zuende gelesen hatte. Weil Beutler die Geschichte einmal mehr packend erzählt – und weil das Wichtigste davon ja wirklich passiert ist, noch dazu rund um einen See und eine Bioforellenzucht, die ich einst gut kannte. 

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Ein Berg, ein Buch und ein Korb

Sonntag, 03. Dezember 2023

Man muss eben Kaffee trinken. Dank eines Kaffees, lang nicht dem ersten, in der Konditorei Dorbolò zu San Pietro al Natisone, war ich auf das Buch gestossen, von dem an der Theke ein paar Exemplare zum Verkauf auflagen. Und nachdem der Matajur hinter Cividale sozusagen mein heiliger Berg geworden ist, weil ich so ergriffen war, als ich zum erstenmal die unglaubliche Aussicht von dort oben erlebte, rundherum über all die Bergketten vom Veneto übers Friaul und Kärnten bis nach Slowenien und über die Ebene bis nach Udine und bis zum Meer, kaufte ich das Buch. Zum Glück! Was Giuliano Citti, ein vierzigjähriger Älpler und Holzbildhauer weiter hinten im Natisonetal, an alten Geschichten zusammengetragen hat und erzählt, ist von schlichter Schönheit; nicht von ungefähr hat er den diesjährigen Literaturpreis «Settembrini» der Region Venetien gewonnen. 

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Menschenverachtende Herrschaft am Beispiel der Bevölkerung Siziliens

Freitag, 01. Dezember 2023

Die Verlegerin Monika Lustig beschenkt mit ihrer kleinen feinen Edition Converso ein an mediterranen Sprachwelten interessiertes Publikum immer wieder mit Entdeckungen. So zum Beispiel mit zwei Büchern, die das den meisten wohl unbekannte Schicksal der sizilianischen Bevölkerung in zwei verschiedenen Epochen erzählen. Dass die Menschen in Süditalien und vor allem in Sizilien in fast jeder Hinsicht benachteiligt sind, weiss man aus den Medien wohl, dass ausser ihnen die Mafia, die Bürokratie und das römische Polittheater daran schuld, ahnt man. Aber wie kommt es, dass eine vor achthundert Jahren als Königreich unter dem deutschen Stauferkaiser Friedrich II. kulturell führende Region Europas zum zurückgelassenen Armenkind geworden ist?

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Zigeuner darf man nicht mehr sagen. Warum?

Montag, 27. November 2023

Das ist ein Versuch. Keine Ahnung, ob Facebook oder andere Sittenwächter einen Text ungeschoren lassen, der das Wort «Zigeuner» nicht nur auf dem Cover des besprochenen Buchs, sondern auch im Text enthält. Soweit hat es diese verklemmte Gesellschaft mittlerweile gebracht, dass man einen herabsetzend gedachten Begriff zwar immer noch denken und danach handeln darf, aber sagen oder schreiben, um Himmelswillen nicht!!!

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Gedichte wie Reiskörner, die keimen und spriessen

Sonntag, 26. November 2023

Gedichte kann ich nicht. Früher hab ich’s ein paarmal versucht, doch immer wieder verworfen. Kurzgeschichten kann ich, Essays auch; mit meinen lyrischen Versuchen war ich nie zufrieden. Und überhaupt sind mir Gedichte fremd, ich habe selten welche gelesen und – Fried, Majakowski und Pasolini ausgenommen, doch die aus politischen Gründen und vor langer Zeit – nie einen Gedichtband gekauft. Und jetzt trag ich Ruth Looslis Reiskörner seit Monaten mit mir herum, berührt gleich von den ersten Gedichten, die ich las, und tu mich schwer, diesen auch in der Gestaltung wohltuend leisen Band zu besprechen. Darf ich etwas über Gedichte sagen, wenn ich meine eigenen dichterischen Fähigkeiten für unbedeutend halte?
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