Rechtlose Indigene, damals und heute

Willi Wottreng ist ein faszinierendes Buch über den politischen Kampf der Irokesen um staatliche Eigenständigkeit Ihres Bundes der Six Nations gelungen. Der Zürcher bilgerverlag hat es fünf Jahre nach dessen Erscheinen erneut beworben. Denn 2023 «jährt sich zum hundertsten Mal der Besuch des Chiefs Deskaheh in Genf, der mit einer kühnen diplomatischen Mission versuchte, 1923 vom Völkerbund die Anerkennung der Six Nations als von Kanada unabhängiger Nation zu erlangen».

Wottreng erzählt anhand von Dokumenten aus dem rebellischen Blickwinkel meiner Generation. Der Indianer ist nicht mehr der edle Wilde, als der Deskaheh damals in Europa Interesse und Unterstützung in gebildeten Kreisen fand; er verfolgt als politischer Akteur hartnäckig die Sache der Entrechteten.

1981 fand ich mich mit Dekahehs Nachfolgern selber vor dem Palais des Nations in Genf. Vier Wochen lang hatten zwei Lakota vom American Indian Movement in unserer Hausgemeinschaft gelebt, während ich im Auftrag der Schweizer Organisation Incomindios Aktionen vorbereitete. Wir wollten auf den 1. UNO-Kongress über die Landrechte der indigenen Völker in Genf aufmerksam machen, unter anderem mit einem Sternmarsch von Aktivisten unter indianischer Begleitung nach Genf.

Deskahehs hartnäckige Bemühungen und die seiner Unterstützer in der Schweiz und in England waren erfolglos geblieben, Wottreng berichtet anhand von Dokumenten eindrücklich über den hoffnungslosen Kampf. Der britische König, die Schweizer Regierung und die Diplomaten am Völkerbund hatten andere Prioritäten des je eigenen Machterhalts in einer auch nach Ende des Ersten Weltkriegs unfriedlichen Welt. Wegen der paar tausend Rothäute mochte sich niemand mit dem britischen Empire anlegen. Zudem schien es aus der vorherrschenden nationalstaatlichen Optik absurd, ein paar Indianerstämmen staatliche Souveränität zuzugestehen. So konnte die kanadische Regierung ihre Politik der Assimilierung der Ureinwohner ungestört fortsetzen. (Erst in den letzten Jahren ist ans Tageslicht gekommen, wie viele Kinder damals ihren indianischen Eltern entrissen und in Schulen der Kirche umerzogen oder heimlich begraben worden waren.)

Wottrengs Bericht ist nicht nur historisch interessant, sondern hilft vor allem auch zu verstehen, warum die Rechte der Ureinwohner bis heute mit Füssen getreten werden können. Die den Indianern einst vertraglich überlassenen Reservate, schäbigste Bruchteile Ihres einstigen Lebensraums, werden bis heute immer wieder missachtet, wenn höhere wirtschaftliche Interessen im Spiel sind: Wenn weisse Siedler Land brauchen, wenn auf Indianerland Bodenschätze gefunden werden oder wenn man beim Bau von Verkehrswegen oder Ölpipelines keine Umwege inkaufnehmen mag – immer dann sind die einstigen Versprechen nichts mehr wert.

Das liegt nicht daran, dass die Irokesen, die Lakota und all die andern indianischen Nationen keinen Widerstand mehr leisten würden; sie tun das im Gegenteil immer wieder auf bewundernswerte Art. Aber ihr Widerstand wird von einer übermächtigen Gesellschaft behandelt wie der Ungehorsam von Kindern durch gewalttätige Eltern, und die Staatengemeinschaft lässt das Unrecht noch immer einfach geschehen. Es hat sich, das ist das eigentlich Erschreckende an diesem Buch, für die Rechte der Indigenen bis heute nichts geändert, aller angeblichen Aufgeklärtheit der Gesellschaft zum Trotz.

Willi Wottreng, «Ein Irokese am Genfersee. Eine wahre Geschichte». bilgerverlag, Zürich 2018. ISBN978-3-03762-073-1

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