Gedichte wie Reiskörner, die keimen und spriessen

Gedichte kann ich nicht. Früher hab ich’s ein paarmal versucht, doch immer wieder verworfen. Kurzgeschichten kann ich, Essays auch; mit meinen lyrischen Versuchen war ich nie zufrieden. Und überhaupt sind mir Gedichte fremd, ich habe selten welche gelesen und – Fried, Majakowski und Pasolini ausgenommen, doch die aus politischen Gründen und vor langer Zeit – nie einen Gedichtband gekauft. Und jetzt trag ich Ruth Looslis Reiskörner seit Monaten mit mir herum, berührt gleich von den ersten Gedichten, die ich las, und tu mich schwer, diesen auch in der Gestaltung wohltuend leisen Band zu besprechen. Darf ich etwas über Gedichte sagen, wenn ich meine eigenen dichterischen Fähigkeiten für unbedeutend halte?

Zum Bild «Four Lane Road» von Edward Hopper, den ich mag, schreibt Ruth:

Diese Stunde steht ewig da und wirft
Schatten an die Wand
Den Mann in den Stuhl
Die Frau ans Fenster
Die Straße in ihre Linie
Den Himmel in seine Farbe
Den Wald an seinen Rand

als schüttle sie derartige Zeilen mit Leichtigkeit aus dem Ärmel, wo die Szene doch so bleischwer lastet, dass es einem die Sprache verschlägt. Und ein Gedicht über die nicht minder drückende Einsamkeit eines Gegenübers beendet sie mit dem überraschenden Rat:

Du sagtest
Ich gehe der Einsamkeit entgegen
Und ich sagte
Schreib es auf

Lass ich Ruths Gedichte auf mich wirken, spür ich, wie viel sie vom Leben weiss und von dessen Schwinden, ein in errungenen Worten stetig vertieftes Wissen, anders ist mir ihr Können nicht vorstellbar; etwa im kurzen Gedicht «Bahnhof Buvaix am See»:

Da stieg mein Vater aus
Nach einer Operation am Herzen nahm er sich seiner an
prüfte Knochen und
Muskeln Die Kraft des Windes
nahm ständig zu und trug ihn
hoch hinaus

oder in «Bis zu dem Moment»:

Wo Sterben sich ans Sterben lehnt, wie an ein Haus ohne Mauern.
Und der Tod im weiten Mantel sich aus der Kutsche beugt und meint: Steigt ein! (…) Aus der Kutsche höre ich
noch rufen: Macht euch keine Sorgen, es geht mir
gut. Die Todeszone habe ich nun verlassen, die Reise
geht weiter mit dem Tod, doch bald schon ist sie zu
Ende und eine andere 
beginnt.

Von der Liebe berichten andere Gedichte:

Herz quillt
über wie ein
Hefeteig den man zu lange gehen lässt
Ich lass dich nicht gehen
nicht gehen nicht

auch von der missglückten:

Es war ein Liebesbrief an seine verstorbene Frau
Ich liebe dich stand da verzeih
ich habe es dir nie gesagt
Dein Theodor

und in «Der Sturm am See»:

Dass du nicht zurückkehrst
muss
andere Gründe haben

So leicht kommen Ruths Verse daher, doch so tief sinken sie in meine Seele ein, mit allem, was ungesagt bleiben konnte und mitschwingt wie ich selbst. Das ist das Dichten, das mir nie gelang, eine Kunst, die ich bewundere. Auch die Art, wie Ruth mit feinem Stift Worte in Bilder setzt.

Ruth Loosli:
«Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe». Gedichte und Schreibbilder. Caracol Verlag, Warth, 2023. 128 Seiten, ISBN 978-3-907296-28-8

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