Du erzählst mutig, Romana. Zum einen, weil Du aus Deinem eigenen Leben als Mädchen und junge Frau erzählst und Dich dabei auszieht, bis Du so nackt auf dem Glastisch liegst wie Deine Geschichten, wenn sie erst als Idee da sind und Du sie zu verlieren fürchtest vor dem Aufschreiben, das warten muss, weil grad was Dringendes dazwischen kommt. Und zum andern, weil sich leicht überprüfen lässt, ob stimme, was Du mir erzählst.
Die Sorgen ums Verlieren einer Idee, die ich sogleich festhielte, wäre da nicht ein Anruf, ein kochender Kaffee, ein Postbote: wie gut kenn ich das! Und wenn Du vom Schnee schreibst, riech ich ihn unmittelbar, in seinen ersten Flocken, im tiefen Winter, im Bergfrühling, tags und nachts, unvergessliche Eindrücke aus jungen Jahren, nicht zu löschen selbst durch meinen späteren Entschluss, den Winter nicht mehr zu mögen, ihn zu meiden und schliesslich ans Mittelmeer zu ziehen, fort von der Schweiz, weg von den Bergen. Und nun fahr ich in der U-Bahn durch Londons Westen und erkenne genau die Landschaft wieder, die Du beschreibst, und das eigenartige Gefühl, das sich in mir dabei regt; dabei hab ich England erst spät für mich entdeckt und meide London, so gut es geht. Du schreibst so eindringlich, beschwörend gar, fast wie im Fieber und gefährlich ansteckend; schon frag ich mich, ob Deine Geschichte vom Rennen nicht eine Nachwirkung entfalten könnte: dass ich selber zu rennen begänne hier dem Strand entlang, dem Alter zum Trotz, ausgerechnet ich, ein im Brechtschen Sinn gefestigter Spötter des Sports.
Auch wenn ich eine Generation älter bin als Du, stadtnah und nicht in den Bergen aufgewachsen, als Bub und nicht als Mädchen, ist mir nicht fremd, was Du aus Deiner Engadiner Jugend erzählst. Vielleicht liegt es auch daran, dass Du nah an der Sprache schreibst, von der Du als Kind umgeben warst, wenn man (Dein Prättigauer Vater) nicht das Ladinische der Region sprach, das aber glitzernden Tränen gleich immer wieder zwischen Deinen deutschen Sätzen hervorleuchtet. Du ziehst Dich aus, anstatt Dich zu entkleiden, Du träumst von Raketenglace statt von Raketeneis, Türen werden bei Dir zugeschletzt statt zugeknallt, und wo andere rennen, seckelst Du, dass es eine Art hat. Schriftgelehrte mögen darob die Nase rümpfen. Wer Sprache liebt, Sprache überhaupt, als Idee, wird Dir, der Lektorin und dem Verlag so dankbar sein wie ich. Nicht auszumalen, was Deiner klang- und bildvollen Sprache in einem grossen, also deutschen Verlag angetan worden wär.
Noch hab ich mich, Du magst es ahnen, nicht ganz erholt von der Lektüre. Die Portionierung in kurze Geschichten war in meinem Fall wenig hilfreich; die Neugier auf die nächste, übernächste war zu gross. Fast atemlos folgte ich Deinen Zeilen, die bei harmlos scheinenden Alltagsszenen ansetzen, in einem erst unbeachteten Detail unversehens ins Apokalyptische kippen, in rasenden Gedanken ein Kaleidoskop kindlichen Schreckstaunens eröffnen, ein Panoptikum ungezügelter Fantasie der erwachsen gewordenen, unbotmässigen Göre. Weint eine Frau in der U-Bahn, kann das schon nach der nächste Kurve als Weltenbrand enden; denn man weint nicht öffentlich, und erst recht nicht, ohne den Grund hierfür bekannt zu geben. Nichts ist unmöglich in Deinen Geschichten; da führt eine ein Ladengeschäft, in dem alles zu bekommen ist, was es anderswo nicht gibt, selbst auf einem kleinen Zettel in ihrer Brusttasche eine ganze Geschichte, die Du längst schreiben wolltest. Und ich sitz da, blättere durchs zuende gelesene, schön gebundene Buch und glätte wehmütig das Lesebändchen, eins von denen, die selten geworden sind und die ausser mir auch meine Katze so sehr mag. Wann kommen Dein nächsten Geschichten?
Romana Ganzoni: «Granada Grischun», Erzählungen. Rotpuntverlag, Zürich, 2017. 194 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-85869-739-4