Ein Streifenhörnchen beim Winterschlaf
(Foto: Michael Himbeault / Wikimedia Commons)
Vorgestern mochte ich schon am Morgen kaum aus dem Bett, sehr müde und sehr schlapp. Ich stand bloss auf, um meine Katze rauszulassen und mir eine Kanne Tee zu kochen. Abgesehen von weiteren kurzen Aufenthalten für ähnliche Zwecke verbrachte ich den ganzen Tag sehr faul im Bett, bis gestern morgen um elf Uhr. Dann entdeckte ich als Erstes auf Facebook bei Thomas Grünwald ein kleine kleine Ode an den Winterschlaf – und war hellwach: Meine Rede seit Jahren!
Tatsächlich täte es uns und der Menschheit und allen den Planeten mit uns teilenden Lebewesen gut, wenn wir dem Rhythmus der Jahreszeiten folgen und unser emsiges Tun in den kalten Monaten herunterfahren würden. Zumindest in Europa und Nordamerika tut der moderne Homo sapiens, wie ich ihn als Sozialpsychologe kennen gelernt habe, eher das Gegenteil: Er geniesst im Sommer die langen freien Abende, doch wenn der Herbst in den Winter übergeht, verfällt er in hektischen Aktivismus, weil er vor Weihnachten und Jahresende noch so viel erledigen muss, als könnte das nicht bis zum Frühling warten.
Larve eines Grasglucke-Schmetterling, Euthrix potatoria
(Foto: Ernest van Asseldonk / Wiki
Kann das der Mensch überhaupt?
Nachdem ich mich nun schon so lange mit dem Verhalten und der Entwicklung verschiedener nichtmenschlicher Tierarten auseinandergesetzt habe, erstaunt es mich nicht besonders, dass ich mich heute spontan frage: Haben frühere Menschen Winterschlaf gehalten? Es erstaunt mich vielmehr, dass ich mich das nicht schon längst gefragt habe.
Im Jahr 2010 berichteten verschiedene Medien über die Forschungen einer Gruppe um einen einen spanischen Anthropologen und einen griechischen Ethnologen, die anhand von gut einer Million alten Knochen in Nordspanien zum Schluss kamen, dass der Winterschlaf bei einer frühen Hominidenart üblich gewesen sein könnte [1]. Im selben Jahr fanden Wissenschaftler von der Universität Marburg Winterschlaf bei einer auf Madagaskar lebenden Affenart [2].
Wenn man sich die Geschichte der Entwicklung der Arten vergegenwärtigt, liegt eine gewisse Veranlagung des Menschen zum Winterschlaf durchaus auf der Hand. Bis vor 100 Jahren soll ein sibirisches Volk südöstlich des Peipus- oder Pskowersees in Russland gelebt haben, das in den Winter Monaten aus Mangel an Ressourcen eine Art von Winterschlaf einhielt, unterbrochen nur einmal täglich kurz für das Essen eines Stücks Brot und das Trinken von Wasser [3].
Im Jahr 2020 haben Schlafforscher an der Berliner Charité entdeckt, dass wir im Winter anders schlafen als im Sommer: Im Winter schlafen wir durchschnittlich eine Stunde länger, und länger sind dann auch unsere REM-Phasen, also jene Schlafphasen, in denen wir träumen und Wissen aufbauen [4]. Es war schon zuvor bekannt, dass die REM-Phasen mit unserer inneren biologischen Uhr zu tun haben, die ihrerseits von Lichtverhältnissen beeinflusst wird.
Überwinternde Larve einer Wespenkönigin der Art Vespula germanica
(Foto: MaxNikon / Wikimedia Commons)
Ja, und es könnte sogar zu befürchten sein
Kürzlich haben Forscher in Deutschland und der der USA vier Schaltergene entdeckt, die für die Stoffwechselumstellung beim Winterschlaf verantwortlich sind und die auch im Menschen vorhanden sind. In den USA werden solche Forschungen vom Pentagon und der NASA grosszügig unterstützt. Die Herren über den Krieg versprechen sich davon, verwundete Soldaten in einen winterschlafähnlichen Zustand versetzen zu können, bis sie ein geeignetes Spital erreichen. Die Herren über den Weltraum begegnen wünschen sich Astronauten, die während langen Jahren einer Reise zu fernen Sternen sozusagen auf Stand-by geschaltet werden könnten. Auch die medizinische Industrie ist daran interessiert, allerdings nur an Teilen von uns: Sie fände es praktisch, wenn von Toten entnommene Organe länger als nur ein paar Stunden transplantationsfähig wären. [5] Offenbar ist in unserer viel zu komplizierten Welt ein Zurück zum Winterschlaf nur zu haben, bin ein paar Leute viel Geld daran verdienen.
Oder aber durch einen radikalen individuellen Schritt: Leute, ich mach jetzt einfach Winterschlaf! Ist aber alles andere als einfach durchzuhalten; schon das für dieses Jahr geplante Experiment, den Unsinn mit der «Sommerzeit» nicht mehr mitzumachen, hab ich bald wieder abgebrochen – es geht nur in konsequenter Isolation von allen äusseren Ansprüchen und von allen Bedürfnissen gegenüber der Aussenwelt.
Mit anderen Worten: Herunterfahren im Winter verlangt ein Mindestmass an kollektivem Tun. Darum: Winterschlaf für alle!
Fledermäuse im Winterschlaf
(Foto: U.S. Fish and Wildlife Service / Wikimedia Commons)
Quellen:
[1] https://www.mdr.de/wissen/mensch-alltag/winterschlaf-bei-menschlichen-vorfahren-nachgewiesen-100.html
[3] https://taz.de/Die-trueben-Tage-verpennen/!5978377/
[4] https://www.mdr.de/wissen/mensch-winterschlaf-anderer-schlaf-100.html
[5] https://www.sueddeutsche.de/wissen/schlaf-auch-menschen-halten-winterschlaf-1.604023