Im Büchergestell meines Vaters standen nebst einigen Romanen (ich erinnere mich an Namen wie Salvador de Madariaga, Norman Mailer, Herman Melville oder Ernst Jünger), einem dicken siebenbändigen Schweizer Lexikon, diversen Militaria und Sachbüchern zur Weltgeschichte auch einige Klassiker in gediegenem Einband, von Dante bis Chamisso. Interessiert haben mich als Junge nur das Lexikon und ein grosser Atlas. Im Verlauf der Jahre hab ich mir meine eigene Bibliothek zusammengestellt, und als Vater und viel später auch Mutter gestorben waren und die Wohnung aufgelöst werden musste, war das alte Büchergestell ein Fall für die Entsorgung, die Bücher so gut wie die schönen Ganzholzregale – wir Kinder und unsere Kinder waren längst eingerichtet in unseren Wohnungen, in denen der Platz längst vergeben war, was auch für die Brockenhäuser galt. Ja, hätte Vater dem Drängen seiner Frau nachgegeben und ein Haus für die Familie gekauft, anstatt ängstlich zu rechnen, dann stünde die Bibliothek jetzt mitsamt dem ganzen Mobiliar in einem Haus, in das wir alle immer wieder gerne zurückkehren würden…
Auch Chamisso war das nicht gegönnt. Pardon, ich greife vor. Zufällig wurde ich auf die Ankündigung des Romans «Chamissimo» aufmerksam, eine Biografie eben jenes mir unbekannt gebliebenen und in der Entsorgung verschwundenen Autors Adelbert von Chamisso, von dem ich ansonsten nie gehört hatte. Meine nostalgische Neugier war geweckt; ich wollte wissen, was mein Vater von ihm gewusst hatte.
Die von Sebastian Guhr verfasste Biografie liest sich fast wie ein Abenteuerroman und gibt einen Einblick in das Leben eines von der breiteren Öffentlichkeit vergessenen europäischen Gelehrten in der Zeit von der französischen Revolution bis nach dem Ende der Restauration. 1781 als Sohn eines französischen Landgrafen geboren, musste er im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie vor den Revolutionsheeren immer weiter nach Osten fliehen; 1786 schliesslich liess sich die verarmte Familie definitiv in Berlin nieder.
Um der bedrückenden Enge der Familie zu entfliehen, wurde Adelbert Page der preussischen Königin, trat nach einer missglückten Liebesgeschichte mit einer Pagin zwei Jahre später als Soldat in die preussische Armee ein und wurde 1801 zum Leutnant befördert. In der Kaserne befreundete er sich mit zwei Schöngeistern und beteiligte sich an ihrer Idee einer literarischen Zeitschrift. 1805 geriet er in französische Gefangenschaft. Anschliessend hielt er sich in Frankreich und der Schweiz auf, wo er das Schloss seiner Kindheit zerstört fand, und in der Schweiz, wo er vorübergehend zum Freundeskreis der Madame de Staël zählte. 1813 kehrte er nach Berlin zurück, wo er alsbald in den Salons verkehrte und sich mit E. T. A. Hoffmann und seinem Kreis befreundete.
Chamisso hatte schon in jungen Jahren «botanisiert» und ergriff darum 1815 die Chance, eine vom russischen Zaren finanzierte Weltumsegelung als Naturwissenschaftler zu begleiten. Er erfasste die Flora, kartographierte Küsten und beschrieb die Lebensgewohnheiten der Völker. 1818 nach der Rückkehr von der entbehrungsreichen Reise verlieh ihm die Universität einen Ehrendoktor und das königliche Herbarium bestellte ihn zum Zweiten Kustos. Er heiratete die 19 Jahre jüngere Antonie, Tochter eines Dichterfreunds, mit der sieben Kinder zeugte. 1833 wurde er Erster Kustos und 1835 Mitglied der Preussischen Akademie der Wissenschaften, auf Vorschlag von Alexander von Humboldt. Er leitete das Herbarium, bis es kurz vor seinem Tod 1838 von einem Brand zum Opfer fiel.
Als Wissenschaftler war ihm Erfolg und Ansehen beschieden, als Poet fand er wohl nicht die Anerkennung, die er sich selber gewünscht hätte. Die Literaturzeitschrift seines Nordstern-Freundeszirkels war ein Misserfolg. Ein breites Publikum fand erst seine 1814 verfasste «Peter Schlemihls wundersame Geschichte», was ihn selber am meisten überrascht zu haben scheint. Spätere Werke zu verschiedenen Themen fanden nicht mehr das gleiche Echo, was Chamisso aber nicht vom Schreiben abhielt; in den letzten 13 Jahren seines Lebens erschienen mehrere literarische Werke.
Guhr ist eine Biografie gelungen, die uns am roten Faden von Chamisso und die Reise durch eine bewegte Zeit in Frankreich und Deutschland führt und zu klingenden Namen der damaligen Kultur. Die Hauptfigur habe ich als eine liebevoll widersprüchlich gezeichnete Person kennengelernt, eher zögernd als draufgängerisch, eher bescheiden als sich aufdrängend, auch in für ihn wichtigen und oft unglücklichen Liebesgeschichten, eher republikanisch gesinnt und menschlich anteilnehmend, wo andere auf ihren Vorteil bedacht waren, was besonders auf der dreijährigen Weltumseglung deutlich wurde. Nur vom Lebensende Chamissos schweigt Guhr, er beschliesst das Buch mit Chamissos erster Bahnfahrt bei der Jungfernfahrt der Linie von Leipzig nach Dresden.
Ich weiss nicht, was mein Vater von Chamisso gelesen hat, und ich weiss nicht, ob ich selber etwas von ihm lesen werde, vielleicht einmal die Tagebücher seiner Weltreise; aber ich gäbe was darum, ihm begegnen und mit ihm sprechen zu können.
Sebastian Guhr: «Chamissimo». 203 Seiten, gebunden. S. Marix Verlag, Wiesbaden, 2022. ISBN 978-3-7374-1199-8