Es gibt Menschen, die eher dazu neigen, bestimmte Erlebnisse vergessen zu wollen. Und es gibt jene, die alles festhalten wollen, um es nicht zu vergessen. Ich gehöre zur zweiten Gruppe, und manchmal leide ich darunter. Denn je mehr ich festgehalten habe, desto schwerer trage ich daran.
Das kann auch ganz physisch verstanden werden: in Form von Archivschachteln randvoll mit Briefen, Entwürfen, Notizen, ein Tausende von Seiten umfassendes Tagebuch, in fremden und eigenen Hand- und Maschinenschriften, bei jedem Umzug treppab, treppauf geschleppt und wieder chronologisch in die Regale eingeordnet. Dieses Frühjahr hatte ich mir die ersten zwanzig Jahrgänge im Versuch vorgenommen, Unwichtiges auszusortieren, also alles, was selbst mich in zehn Jahren nicht mehr interessieren würde. Wirklich viel war es nicht, was ich zum Altpapier gab.
Dann kam Besuch, der grosse Tisch musste leergeräumt werden, und seither stockt das Vorhaben, für fast zwei Monate schon. Ich ahne den Grund; es warten besonders üppige Jahrgänge auf mich, und wieder werde ich vieles wenigstens anlesen müssen, um über dessen Verbleib im Archiv entscheiden zu können. Und wieder werde ich auf Erinnerungen stossen, die mir gänzlich entschwunden waren oder die sich anders in mir festgesetzt hatten – ja, genau darum hatte ich dies alles einst aufgeschrieben und aufbewahrt: um mich davor zu bewahren, Erlebnisse von mir selbst zu vergessen oder falsch zu erinnern.
Erst nach einer mehrjährigen Übergangszeit, in der ich fast nur noch auf dem Computer geschrieben, aber alles ausgedruckt und im Archiv abgelegt hatte, vertraute ich ganz auf meine Speicherplatten und war sehr froh, Einstiges durch einfache Suche direkt auf meinen Bildschirm holen zu können; denn wann hätte ich die Zeit gefunden, in meinen Archivschachteln nach etwas zu suchen? In den letzten dreissig Jahren hab ich nur mehr wenige dieser Schachteln gefüllt, hatte den intimen Umgang mit ihnen weitgehend verloren; wie hätte ich da rasch finden können, was mir im elektronischen Archiv oft auf den ersten Eingabebefehl gelingt?
Auch die elektronisch gespeicherte Erinnerung hat freilich ihre Tücken. Weil es so einfach ist, bestimmte Dinge aktiv abzurufen, gewöhnt man sich daran, dieses Archiv auch nur auf diese Weise zu nutzen. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, mich mal einen Tag lang hinzusetzen und einfach durch alte Mailkorrespondenzen zu blättern. Beim papierenen Archiv hingegen bleibt mir gar nichts anderes übrig, als Blatt um Blatt zu lesen, wenn ich sicherstellen will, nichts zu übersehen; ich suche also vergleichsweise passiv, offen für das, was mir begegnet.
Während ich an meiner Art des Festhaltens von Erlebtem in all den Jahrzehnten nichts verändert habe, einmal abgesehen von den technischen Hilfsmitteln des Schreibens, von der Hand- zur Maschinenschrift und zum Computer, hat sich damit doch die Art, wie ich meine Archive nutze, radikal verändert. Verändert das auch meine Erinnerungen? Ist das, was ich auf Papier festhielt, weniger präsent, dann aber in Gänze, wenn ich ihm wieder begegne, während elektronisch Gespeichertes beim Suchen häufiger mal zum Vorschein kommt, aber nur als kontextloses Bruchstück, als Treffer unter anderen auf einer Liste?
Solche noch recht harmlose Gedanken gingen mir durch den Kopf nach dem Hören der faszinierenden Reportage von Eva Wolfangel [1] über das Erinnern in Zeiten von Virtual Reality, die abgrundtief existenzielle Fragen aufwirft: Kann ich mithilfe der neusten Technik sicherstellen, mich an alles zu erinnern, nichts zu vergessen? Kann ich im Gegenteil dank solcher Technik Dinge vergessen, die mich belasten? Und von wem und wozu könnten solche Wunderdinge missbraucht werden? Wenn unser natürliches Erinnerungsvermögen schon selektiv und unzuverlässig funktioniert: wie anfällig sind wir denn für Manipulationen, die uns falsche Erinnerungen eingeben? Und schliesslich: Wer wäre denn in der Lage, sich die lückenlosen Aufzeichnungen des selber Erlebten jemals anzuschauen? Und wenn: wozu könnte das gut sein? Ist es nicht klüger, die Unvollkommenheit unserer Erinnerung als Teil unseres Seins anzunehmen und als Dank dafür nicht noch manipulierbarer zu werden?
Ich bin jedenfalls froh, dass mich keine neue Technik des Festhaltens reizt und ich vollkommen autonom entscheiden kann, was in mein Archiv gehört und was nicht, und dass ich es, sollte ich einst ganz den Überblick verlieren, es notfalls auch einfach vernichten kann.
[1] Hörenswert: «Manipuliertes Gedächtnis» von Eva Wolfangel. Mithilfe von Virtueller Realität und Künstlicher Intelligenz lassen sich Erinnerungen heutzutage so einfach fälschen wie noch nie.
Übrigens: «Reportagen» ist eine echt gut gemachtes Zeitschrift, die man auch abonnieren kann; hab ich jetzt endlich gemacht.