Albert Rösti und Markus Ritter entführt!

Eine Moritat rund um die Biodiversität mit wahrem Hintergrund [1]


Irgendwer wird dereinst nur noch Rösti zu essen kriegen – entweder jene, die sie angerichtet haben, oder wahrscheinlicher all jene, die das zuliessen.

1 Die Bombe platzt

«Das Basiskollektiv biodiv hat Albert Rösti, Bundesrat, und Markus Ritter, Bauernverbandspräsident, entführt und wegen wiederholter bandenmässiger Irreführung der Schweizer Bevölkerung verurteilt. Die beiden Promotoren einer Lügenkampagne gegen den wissenschaftlich belegten Verlust der Biodiversität bleiben in Gefangenschaft, bis der Bundesrat beschliesst, die Volksabstimmung vom 22. September über die Volksinitiative «Für die Zukunft unserer Natur und Landschaft» (Biodiversitätsinitiative) auszusetzen und im kommenden Jahr mit einem erläuternden Text des Forums Biodiversität der Schweizerischen Akademie der Natur­wissenschaften neu anzusetzen. Die Kommunikation mit dem Basiskollektiv biodiv ist ausschliesslich über swissinfo.ch der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft möglich.»

Diese knappe Mitteilung erreichte die nationale Nachrichtenagentur Keystone-SDA auf einem mit uralter Schreibmaschine getippten Brief per Post am Donnerstagmittag und schlug in den Medien wie eine Bombe ein, nachdem bereits in den Morgennachrichten das mysteriöse Verschwinden von Rösti bekanntgegeben worden war. Polizeiliche Ermittlungen über den Aufgabeort des Briefes und sachdienliche Spuren auf dem Papier und im Maschinenschriftbild blieben ergebnislos. Der Poststempel war verzogen und bis auf die Angabe des Kantons «(SG)» unleserlich. Papier und Couvert waren Massenware und offensichtlich nur mit Handschuhen berührt und mit einem Feuchttuch gereinigt worden. Und die Maschine musste vor Jahrzehnten hergestellt, aber sehr selten benutzt worden sein.

Radio SRF schaltete nach dem Mittagsnachrichten eine Sondersendung ein, an welcher der Bundespräsident und die Präsidenten der im Parlament vertretenen Parteien Stellung nahmen. Alle waren sich in der kategorischen Ablehnung der politischen Führung einig, die Vertreter der Grünen und Sozialdemokraten liessen dabei allerdings durchblicken, dass eine gewisse Mitverantwortung der beiden Entführten wegen ihres seit langem betriebenen rücksichtslosen Kurses nicht ganz von der Hand zu weisen sei, was die Vertreter von der Rechtsaussenvolkspartei und der Freisinnigen scharf kritisierten. Die Forderung nach Verschiebung der Volksabstimmung aber wurde von der Elefantenrunde einhellig zurückgewiesen; erpressen lasse man sich selbstverständlich nicht!

Die Abendnachrichten von Radio und Fernsehen informierten ausführlich über den unerhörten Vorfall und über die bis dahin erfolglosen Bemühungen der Polizei, eine Spur der Entführer und zum Versteck der beiden Politiker zu finden. Der Schweizer Bauernverband versprach eine Belohnung von hunderttausend Franken für zielführende Hinweise, die Schweizerische Volkspartei verdoppelte die Prämie. Sprecher von Bundesanwalt und Bundespolizei gaben sich entschlossen, den Fall innert Kürze zu lösen. Am Freitagmorgen waren die ersten Seiten der Tageszeitungen ganz der Entführung, dem Wirken der beiden Politiker, dem wahnwitzigen Anliegen der kriminellen Aktivisten und der fieberhaften Arbeit der Polizei gewidmet. Auf den sozialen Medien waren Meinungen aller Art zu lesen, von «Hängt die vom Ausland gesteuerten biodiv-Verbrecher!» bis «Rösti und Ritter sollen schmoren, bis sie ihre Lügen gestehen!» Ausländische Medien berichteten ausführlich über das Ereignis, in einer Mischung aus Zurückhaltung und Erstaunen.

2 Offizielle Schweiz und Entführer bleiben hart

Am Freitagabend verbreiteten Radio und Fernsehen den Beschluss der Landesregierung, auf die Forderung der Entführer nicht einzugehen und an der Volksabstimmung wie geplant festzuhalten. Der aktuelle Stand der polizeilichen Ermittlungen beschränkt sich auf die Erkenntnis, dass die beiden Politiker sich nachmittags in einem Café in der Nähe des Bundeshauses zu zweit treffen wollten und vor dem Lokal von nicht identifizierten Personen in einen Lieferwagen ohne auffällige Merkmale gezerrt und Statt auswärts gefahren wurden. Ein erster Kommentar geisselt die Verlosung der politischen Sitten in der Schweiz, was nun wohl dazu führen werde, dass sich Bundesräte und hohe Politiker nur noch unter Polizeischutz in der Öffentlichkeit bewegen könnten. Vertreter verschiedener Parteien und Organisationen, darunter auch die Gattinnen der beiden Politiker, appellierten an die Entführer, Rösti und Ritter unverzüglich freizulassen. Der Bundesanwalt stellte für diesen Fall Straffreiheit in Aussicht. In verschiedenen Kommentaren schimmerte die Hoffnung durch, bei der Entführung handele es sich lediglich um eine besonders dreiste Kampagne im Vorfeld der Abstimmung, um Aufmerksamkeit für die Anliegen der Initianten zu wecken; die beiden Politiker würden wohl bald wieder freigelassen. Am Samstag erhielten derartige Hoffnungen einen harten Dämpfer. Ein neuerliches Schreiben der Entführer an die Nachrichtenagentur hält kurz und bündig fest:

«Da der Bundesrat an der Volksabstimmung festhält, hat das Basiskomitee biodiv eine Verschärfung der Haftbedingungen beschlossen. Die Herren Rösti und Ritter erhalten ab heute nebst Wasser nichts weiter zu essen als Rösti aus Kartoffeln, Rapsöl und Salz. Sie bleiben so lange in unserer Obhut, bis sie ihre Lügen öffentlich eingestehen und von allen ihren Ämtern zurücktreten.»

Am Samstagnachmittag gibt es in Bern und einigen weiteren Städten erste spontane Kundgebungen von besorgten Bürgern, welche die klare Haltung der Behörden unterstützen und die Entführer zum Aufgeben aufrufen. In Sprechchören verbreitet sich zunehmend der von einem Werbebüro über Nacht entwickelte Slogan «Biodiversität ohne Kriminalität!». In einer Talkrunde nach der Tagesschau diskutieren die Politiker, Umweltschützer und Wissenschafter über die Entführung und deren Hintergründe. Eine Zoologin, ein Naturschützer und eine Klimaexpertin geraten dabei unter massiven Beschuss der übrigen Teilnehmer und der Sendeleitung, weil sie den Entführern – deren Tun sie unmissverständlich ablehnen – inhaltlich Recht geben. In der Folge tobt der Meinungskampf in Leserbriefen und auf sozialen Medien noch heftiger.

Die Polizei hofft nun immerhin, den Entführern auf die Spur zu kommen, indem sie nach einer lokalen Häufung des Einkaufs von Kartoffeln oder Fertigrösti sucht. Vergeblich; nach drei Tagen intensiver, landesweiter Recherche zeigt sich zwar, dass der Absatz von Beuteln mit Fertigrösti vor drei Monaten deutlich zugenommen hat, bis er vor zwei Wochen wieder zurückging, die Zunahme von insgesamt rund siebentausend Portionen verteilt sich aber gleichmässig auf alle Landesregionen und auf verschiedene Ladenketten und Marken. Offensichtlich handelt es sich bei den Entführern um hartgesottene Profis, die nichts dem Zufall überlassen. Einzige Anhaltspunkte für die weitere Suche sind ein inzwischen wahrscheinlich irgendwo entsorgter grauer Lieferwagen mit während des Anschlags verdeckten Kennzeichen und ein Versteck mit Trinkwasser, Wärmeenergie und genügend Raum für fünf bis sechs Menschen und deren Lebensmittelvorrat für mindestens ein Jahr. Da die Botschaften der Entführer mit dem rot-schwarzen Stern der Anarchosyndikalisten gezeichnet sind, beschliesst die Bundespolizei, die Suche zunächst auf abgelegene Täler und Höhen im Jura zu konzentrieren.

3 Allmähliches Erlahmen

Am darauf folgenden Montag trifft ein drittes Schreiben der Entführer bei der Nachrichtenagentur ein, und erneut enthält es keinerlei polizeilich verwertbaren Spuren. Die Botschaft ist kurz:

«Die Herren Rösti und Ritter sind physisch wohlauf. Sie dürfen Briefe von Angehörigen und Freunden empfangen und ihrerseits ohne Hinweise auf den Aufenthaltsort beantworten, sobald fachlich zuständige Wissenschafter des Forums Biodiversität der Schweizerischen Akademie der Natur­wissenschaften sich in den folgenden Medien ausführlich zur Lage der Biodiversität in der Schweiz äussern konnten (es folgt eine Liste von zwei Dutzend Zeitungen, Zeitschriften, Radio- und Fernsehstationen). Als ausführlich akzeptieren wird mindestens eine ganze Zeitungsseite, mindestens zwei Zeitschriftenseiten oder mindestens eine halbe Stunde Sendezeit. Das Angebot gilt, sobald alle genannten Medien ihre Aufgabe erfüllt und uns dokumentiert haben.»

Diesmal ist der Brief deutlich lesbar in Le Locle abgestempelt; auf Anfrage erfährt die Polizei jedoch, dass es sich um einen eingeworfenen Brief handelt, dessen Absender unbekannt ist. Innerhalb der Bundespolizei kommen Zweifel auf, ob die Hypothese Anarchisten und Jura überhaupt richtig sei oder ob nicht vielmehr die Entführer sich genau darüber lustig machten, indem sie mit Absicht nicht verhinderten, dass der Poststempel deutlich sichtbar sei. Zudem seien die Botschaften der Entführer völlig frei von einschlägigem Vokabular. Kurz, die Polizei tappt weiter im Dunkeln.

In akademischen Kreisen und in der Öffentlichkeit wird heftig darüber diskutiert, ob man auf diese Zumutung der Entführer eingehen dürfe. Einige renommierte und für ihre Unabhängigkeit bekannte Wissenschaftler setzen sich dafür ein, die Forderung zu erfüllen, zum einen aus humanitären Gründen, da doch berechtigte Hoffnung auf ein rationales Verhalten der Entführer bestehe, zum anderen aber auch, um die nun aufgeheizte Debatte zu versachlichen. Als erste bieten die Sendung Rundschau des Deutschschweizer Fernsehens, der Walliser Bote und die Sendung «1 Question 100 Réponses» von Radio Suisse Romande Raum für Beiträge von Biodiversitätsforschern. Innert einer Woche erklären sich alle genannten Medien bereit, Vertretern des Forums die geforderte Präsenz einzuräumen.

In den letzten Wochen vor der Volksabstimmung werden fast alle geforderten Beiträge publiziert; nur bei fünf Medien kann die Veröffentlichung erst nach der Abstimmung erfolgen. 50,4 Prozent der Stimmenden heissen die Biodiversitätsinitiative zwar gut, aber zwölf Kantone lehnen sie ab. Damit ist die Initiative gescheitert, doch das Thema bleibt in heftiger Diskussion, angetrieben von der Fortdauer der Entführung ohne neue Nachricht seit drei Wochen. Ende September sind endlich alle Beiträge veröffentlicht. Die Nachrichtenagentur erhält eine kurze Botschaft:

«Familien und Freunde der Herren Rösti und Ritter sind nun eingeladen, Briefe an sie zu senden, und zwar ausschliesslich an german@swissinfo.ch. Was die Redaktion hiervon veröffentlichen will, bleibt ihr überlassen. Die Antworten der Herren Rösti und Ritter werden wir an die Nachrichtenagentur senden.»

Der Poststempel auf diesem Brief ist verwischt, lediglich die erste Stelle der Postleitzahl ist lesbar und weist auf einen Aufgabeort in der Nordwestschweiz hin. Die Polizei hält sich gegenüber den zahlreicher und drängender werdenden Fragen der Öffentlichkeit bedeckt, sie hat keine Ahnung und keinen Plan, wie aus Insiderkreisen durchsickert. Dringliche Vorstösse im Bundesparlament verpuffen wirkungslos. Allmählich weicht das Interesse am Thema und an der Entführung einer leisen Ermüdung und leidet unter der Konkurrenz aktuellerer Ereignisse im In- und Ausland. Die Veröffentlichung von Briefen an Rösti und Ritter auf swissinfo.ch schafft nochmals Aufmerksamkeit, die aber rasch erlahmt, weil die Solidaritätsbekundungen sich wiederholen, als wären sie im Copy-Paste-Verfahren geschrieben worden. Auch die Tage später veröffentlichten Antworten der beiden Entführten können das Interesse nur kurz wieder entfachen; die offensichtlich zensierten Zeilen enthalten wenig Neues ausser der Beteuerung der Unschuld und der Klage darüber, dass es täglich dreimal heisse, diese Rösti werde gegessen, Punkt, und dabei handle es sich um die billigste, langweiligste Rösti aus dem Beutel. Bei Reklamation würden ihre Entführer nur höhnisch lachen: Das sei jetzt eben die Biodiversität à la Rösti und Ritter. Das zu hören sei noch schlimmer als das ewige Röstiessen.

Das Basiskollektiv biodiv hat den Antworten einen einzigen Satz hinzugefügt:

«Die beiden Herren befinden sind in körperlich guter Verfassung und bleiben bis zum öffentlich in Geständnis ihrer wiederholt und bandenmässig begangenen Irreführung der Schweizer Bevölkerung in unserer Obhut.»

 

4 Fast schon vergessen, doch dann…

Die Gefangenschaft von Rösti und Ritter dauert bereits über fünf Monate. In ihrer Hilflosigkeit klammert sich die Polizei an die Berechnung, dass der Röstivorrat der Entführer höchstens noch für zehn Monate reichen dürfte und dass nach Ablauf dieser Zeit neue Röstieinkäufe Spuren hinterlassen dürften würden. In älteren linken Kreisen werden Vergleiche mit dem Fall Aldo Moro angestellt, auch damals war die Polizei unfähig, das Versteck des Entführten zu finden.

Der Vergleich wird von vielen als unzulässig zurückgewiesen, da es sich bei Moro um einen Politiker von erstrangiger nationaler Bedeutung gehandelt habe, den seine eigene Partei nur zu gerne los geworden sei, um sich nicht mit den Kommunisten einigen zu müssen. Andere hingegen weisen darauf hin, dass auch im Bauernverband Stimmen laut würden, Ritter von seiner Funktion als Präsident wenigstens zu beurlauben, um wieder eine handlungsfähige Person an der Spitze zu haben. Ja, selbst bei der SVP gebe es hinter vorgehaltener Hand bereits Überlegungen, ob und wie Rösti im Bundesrat ersetzt werden könnte, falls die Entführung noch lange anhalte. Einzelne Scharfmacher sollen sogar schon dafür plädiert haben, die beiden Politiker rasch zu ersetzen, weil damit zu rechnen sei, dass sie eines Tages so mürbe seien, dass sie die Forderung nach einem Geständnis einfach erfüllen würden, um frei zu kommen; ein derartiges Geständnis wäre aber umso weniger gefährlich, je länger sie ihre Ämter schon los seien.

Neun Monate nach der Entführung spricht kaum mehr jemand darüber. Familien und Freunde der beiden Politiker setzen sich zwar vehement gegen das Vergessen ein, machen sich aber bei Politikern und Medien und sogar bei der Partei des einen und beim Verband des anderen zunehmend unbeliebt.

Weitere drei Monate später wählt der Bauernverband einen neuen Präsidenten und die Bundesversammlung einen neuen SVP-Bundesrat. Der Wechsel von Briefen an Rösti und Ritter und Antworten von ihnen ist schon fast ganz versiegt. Die Polizei hat längst andere Prioritäten und wird höchst ungern auf den Fall angesprochen. Dann plötzlich, fast zwei Jahre nach der Entführung erhält die Nachrichtenredaktion eine neue Botschaft vom Basiskollektiv biodiv, die wiederum so professionell ausgeführt wurde, dass sie nicht die geringste Spur preisgibt:

«Die Herren Rösti und Ritter haben gestern ein Geständnis abgelegt. Herr Rösti beschreibt auf seinem beiliegenden, zehnseitigen handgeschriebenen Brief im Detail, was er unternommen hat, um die Situation der Schweiz in Bezug auf Biodiversität, Klimaschutz, Umwelt und Verkehr positiv darzustellen und die effektiven Probleme zu verschleiern. Er führt in seinem Brief auch alle Personen und Organisationen auf, die ihm dabei geholfen haben oder die er entsprechend beeinflusst hat. Herr Ritter beschreibt auf seinem beiliegenden siebenseitigen Brief im Detail, wie er den Bauernverband zu einem Partner der Industrieverbände umfunktioniert hat und wie er hierfür die Situation und das Verhalten der Schweizer Landwirtschaft beschönigt hat. Er zählt in seinem Brief alle Personen und Organisationen auf, die in dabei unterstützt haben oder die er dafür instrumentalisiert hat. Beide Herren sind in körperlich guter Verfassung und erscheinen geistig geläutert. Sie werden an einem noch unbestimmten Ort und Tag freigelassen. Wir danken beiden Herren für ihren Lernprozess und hoffen, dass sie neue Kreise finden, in denen sie willkommen sind.»

Als die Medien die Briefe von Rösti und Ritter publizieren, ist die Empörung in der Öffentlichkeit über das Verhalten der bürgerlichen Politikern und Verbände gross. Es entsteht eine Stimmung ähnlich damals Ende der 1980er Jahre, als der Skandal um die geheimen Fichen über Hunderttausende von Bürgern aufgeflogen war. Unter dem Druck zahlreicher Kundgebungen sehen sich Bundesrat und Parlament gezwungen, neue Verfassungsgrundsätze zum Schutz der Biodiversität und der Umwelt auszuarbeiten, die innert Jahresfrist von Volk und Ständen gutgeheissen werden.

Das Basiskollektiv biodiv verschwand so spurlos, wie es agiert hatte, und nicht minder spurlos versandeten die polizeilichen Ermittlungen vollends.


[1] https://www.republik.ch/2024/09/05/aktive-faktenverdrehung

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