Den ganzen Vormittag hatte ich vergeudet mit Verkehrsproblemen, bis ich endlich am Treffpunkt ankam. Es hatte damit begonnen, dass ich vergeblich versuchte, mit meinem Handy ein Billett zu lösen; schliesslich schaffte ich es in letzter Minute mit meiner Kreditkarte an einem Automat. Im fahrenden Zug fragte ich mich dann allerdings, ob die vorbeiziehenden Häuser wirklich zu der Strecke nach Zürich gehören. Als ich etliche Passagiere wahrnahm, die üblicherweise in der selben Richtung wie ich unterwegs waren, entspannte ich mich. Drei von ihnen erkannten mich, setzten sich in meine Nähe und begonnen herumzualbern und zu singen; einer klimperte dazu auf einer Gitarre, die er unversehens in der Hand hatte.
Plötzlich stoppte der Zug; meine Bekannten standen auf und bedeuteten mir, mit ihnen auszusteigen, da es hier wieder einmal nur mit einem Ersatzzug weitergehe. Draussen angekommen sah ich mich vor einer lange Warteschlange von Menschen, die alle ein Billett lösen mussten, um weiterzukommen. Ich stellte mich wie meine Begleiter ebenfalls an und wurde dabei das Gefühl nicht los, genau diese Szene schon einmal erlebt zu haben, wie in einem immer wiederkehrenden Traum. Schliesslich gelang es mir, mich durch eine Traube von Wartenden hindurch zu einer Waggontüre vorzuarbeiten und einzusteigen. In wilder Fahrt ging’s weiter, ich konnte mich mit Not an einem Griff festhalten, den ich im rappelvollen Wagen ergattert hatte.
Bald wurde mir jedoch bewusst, dass ich einen falschen Zug erwischt hatte, jedenfalls keinen, der mich nach Zürich bringen würde. Ich musste noch zweimal umsteigen, bis ich endlich dort eintraf, gerade noch rechtzeitig, bevor meine Kollegin entnervt gehen wollte. Sie brauche unbedingt und sofort einen Kaffee, sagte sie zur Begrüssung; ich dagegen bestand darauf, sogleich zum Institut zu gehen, weil ich mich noch auf mein Referat vorbereiten müsse, und akzeptablen Kaffee gäb’s ja auch dort. Wir trafen eine halbe Stunde vor Beginn des Seminars ein, wo ich mich in eine ruhige Ecke zurückzog, mit einem Espresso und einem Heft, das ich auf einer leeren Seite aufschlug. Also, jetzt aber! Es war mir schon klar, dass eine halbe Stunde verdammt knapp ist; denn natürlich fehlten mir jetzt die Stunden des Vormittags, in denen ich hatte recherchieren und den Vortrag entwerfen wollen, wie immer auf den letzten Drücker. Aber eine halbe Stunde war ja nicht nichts, und ich hatte schon in ganz anderen Situationen brillant improvisiert.
Dann mal los. Was soll ich berichten über das Verhalten und die Bedürfnisse von Testudinidae, der Echten Landschildkröten? Ich könnte als Einstieg Vergleiche zu Verhalten und Bedürfnissen von Katzen, Hühnern und Fischen anstellen, da kenne ich mich aus und kann etwas Zeit schinden. Hm… aber Vergleiche zu was? Ich musst mir eingestehen, dass ich von Schildkröten nicht die leiseste Ahnung habe, sie sind mir fremd wie irgendwas, und doch würde ich vor allem über sie sprechen müssen. Es fehlte mir bei aller Redekunst die geringste Basis, und so würde ich mich von meinen Kollegen grausam blamieren und nicht nur keinen einzigen Punkt für mein Referat kriegen, sondern den Rausschmiss aus dem Seminar riskieren. In höchster Verzweiflung entschloss ich mich, kurz vor Beginn und in Sichtweite meiner Kollegen einen Zusammenbruch zu fingieren, und zwar derart überzeugend, dass ein heutiger Vortrag von mir für alle vollkommen unmöglich erscheinen musste. Bloss: wie mach ich das?
Ich erwache verspannt und verwirrt. Als ich endlich sicher bin, bloss geträumt zu haben, kann ich mir erleichtert eingestehen, von Schildkröten wirklich keine Ahnung zu haben.
Billo, Traum, 11. Jänner 2025
Zeichnung aus «Letters From the Beasts to Dina» (Pamela Colman Smith, 1905 / Wikimedia Commons)