Die Atombombe in Netanyahus Hand ist die reale Gefahr

Seit Jahrzehnten warnt die israelische Führung, der Iran werde «innert Kürze» die Atombombe haben. Warum erhält dann die israelische Armee den Befehl zum Angriff auf den Iran erst und ausgerechnet jetzt?

Benjamin Netanyahu (Foto: UK gov’t/Wiki) und Ali Khamenei (khamanei.ir/Wiki)

Motiv 1: Die Mullahs dürfen die Bombe nicht haben

Gehen wir zuerst einmal davon aus, das Ziel der israelischen Kriegseröffnung bestehe tatsächlich darin, zu verunmöglichen, dass der Iran Atombomben baut. Gehen wir weiter davon aus, dass es Israel wahrscheinlich nicht gelingen kann, das gesamte iranische Atomprogramm jetzt sofort in Schutt und Asche zu legen. 

Die wahnwitzige Aktion der israelischen Regierung verhindert keinen Atomkrieg zwischen den beiden Ländern, sondern fördert ihn geradezu. Denn 

(a) entweder steht der Iran tatsächlich unmittelbar vor der Fertigstellung von Atomwaffen, wie Israel behauptet; dann besteht das Risiko, dass der Iran sich der Angriffe erwehrt, in dem er diese Waffen sofort fertigstellt und gegen Israel einsetzt.

(b) Oder aber der Iran hat gar keine Atomwaffen; in diesem Fall besteht das Risiko, dass der Iran sich nun raschestmöglich atomar bewaffnet, um Israel bei einem späteren Krieg zu begegnen.

Einmal ganz abgesehen vom durchaus realen Risiko eines Atomunfalls bei der Bombardierung von Atomanlagen, vor dem die Atomenergiebehörde (IAEA) nich kurz vor dem Angriff ausdrücklich gewarnt hat [14].

Im Iran gebe es noch lange keine einsatzfähige Bombe, so Jan Busse von der Universität der Bundeswehr München am 13. Juni in der Sendung ZDF heute. Es fehlten ein funktionsfähiger Sprengkopf und ein geeignetes Trägersystem. Experten gingen davon aus, dass der Iran mindestens noch ein bis zwei Jahre bis zu einer einsatzfähigen Atomwaffe brauche, selbst unter der spekulativen Annahme, dass die politische Führung den Bau von Bomben bereits beschlossen habe. [1]

Und genau dieser politische Beschluss der iranischen Führung zum Bau von Atombomben fehle bis heute, sagt Jim Walsh, der zu Atomwaffenprogrammen am Massachusetts Institute of Technology (MIT) forscht. Und er fährt fort, dass nun nach dem israelischen Angriff die Befürworter der Atombombe innerhalb des iranischen Führungszirkels die Oberhand gewinnen könnten. [2]

Aber hat denn der Iran überhaupt (die Voraussetzungen zum Bau von) Atomwaffen?

«Diese Sorge treibt die Welt um. Und einiges spricht dafür, dass die Mullahs mehr wollen als nur die friedliche Nutzung der Nukleartechnik», behauptete die zweiteilige Serie «Iran und die Bombe», die am 15. März vom Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) ausgestrahlt wurde [3][4].

Der zweite Teil, «Auf dem  Weg zur Atommacht» wurde mehr als zwei Jahre später, nämlich am Abend nach Beginn der israelischen Angriffe, am 13. Juni 2025 auf ARD erneut abgespielt, ganz so, als ob eine öffentlich-rechtliche Sendeanstalt in Deutschland Teil der israelischen Kriegspropaganda wäre [5].

Die beiden Filme fassen einigermassen interessant zusammen, was die Regierungen in Israel, den USA und europäischen Ländern seit langem befürchten. Konkrete Beweise dafür, dass der Iran unmittelbar vor dem Bau von Atomwaffen steht, fehlen freilich. Vor allem aber fehlt jeder auch noch so kleine Hinweis darauf, dass Israel seit Jahrzehnten über Atomwaffen verfügt. 

Motiv 2: Ablenken von der israelischen Atombombe

Offiziell wird nicht von der Existenz israelischer Atomwaffen gesprochen. Westliche Regierungen und Medien folgen der Haltung der USA: Ihr sagt uns nicht, was ihr tut, und wir wissen von nichts. Tatsächlich gehört es zur israelischen Strategie, die Dinge im Ungewissen zu belassen, weil man sich davon noch mehr Abschreckungswirkung verspricht. 

Zuerst haben die USA das isrealische Atomprogramm unterstützt, dann Frankreich und Deutschland und schliesslich das südafrikanische Apartheid-Regime (Gleich und Gleich gesellt sich gern) mit einem Deal: Uran gegen Atomwaffentechnologie. Nachzuhören in einer ZDF-Sendung aus dem Jahr 2013; damals durfte man sich in deutschen Leitmedien offenbar noch kritisch zur israelischen Politik äussern. [6] Ideologischer Hintergrund der israelischen atomaren Bewaffnung ist die sogenannte «Samson-Option», ein extremes letztes Mittel der Verteidigung, auch wenn man dabei selber ebenfalls zugrunde gehen sollte [7].

Ausgerechnet der unheimliche Atomstaat Israel nimmt das Recht in Anspruch, einen Präventivschlag gegen den Iran und sein Atomprogramm durchführen zu dürfen. Dieses Recht bestehe aber im vorliegenden Fall überhaupt nicht, wie der Politologe und einstiger Schweizer Botschafter im Iran, Tim Guldimann, am 14. Juni gegenüber Schweizer Radio SRF ausführte. Und er fügte hinzu, dass er von der Schweizer Regierung eine eindeutige Verurteilung des israelischen Angriffs erwarte; denn die Verteidigung des Völkerrechts sei gerade für kleinere Staaten wie die Schweiz von enormer Bedeutung. [8]

Der klügste Schritt, um die iranische Führung vom Bau eine Atombombe abzubringen, wäre es, wenn Israel endlich dem Atomsperrvertrag beiträte, sich der Kontrolle der internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) unterzöge und sich – ähnlich wie einst die Ukraine – verpflichten würde, das Atomwaffenarsenal auf null abzubauen.

Motiv 3: Ablenken vom Holocaust in Gaza

Die Angriffe auf den Iran würden auch dazu dienen, Israel aus der zunehmenden internationalen Isolation wegen seines fortdauernden Völkermords im Gazastreifen zu lösen, ja: ihn gar in Vergessenheit zu bringen, sagt Bernard Hourcade, Geograf, Iranexperte und ehemaliger Direktor des Forschungsinstituts Frankreichs im Iran. Israel versuche, den Iran als das wahre Problem zu präsentieren, was für das Publikum im Westen relativ einfach zu bewerkstelligen sei, da sich der Iran wegen seines diktatorischen Regimes und der Missachtung der Menschenrechte als Idealfeind gerade zu anbiete. [9]

Motiv 4: Regime change

«Kann Israel seine offiziellen Ziele, nämlich die Zerstörung des iranischen Atomprojekts, erreichen? Keineswegs; aber das ist auch nicht das eigentliche Ziel. Israel will die gesamte Region versklaven. Es strebt einen Regimewechsel im Iran an. Die arabischen Führer haben sie bereits in der Tasche, das arabische Volk aber nie», sagt Gilad Atzmon, ein in Israel aufgewachsener Autor und Jazzmusiker, der längst anderswo lebt, einer der schärfsten Kritiker Israels ist und in Abrede stellt, dass Staaten ein Existenzrecht hätten, so auch Israel nicht. Warum Atzmon weiss, was Netanyahu vorhat? «Ich war 30 Jahre lang Jude, ich kann denken wie Netanjahu.» [10]

Noch am Tag der ersten Angriffe rief Israels Regierungschef Netanyahu die iranische Bevölkerung zum Aufstand gegen das Mullah-Regime auf [10]. Was der iranische Aussenminister Khoshcheshm gegenüber Al-Jazeera umgehend trocken kommentierte: Netanjahu wisse genau, dass dies eine Verhöhnung sei und dass er andere Ziele verfolge, andernfalls wäre er dumm, solche Wunschvorstellungen zu haben [11].

Iran hat einschlägige Erfahrungen mit Regime Change. 1953 war es den Geheimdiensten der USA und Grossbritanniens (CIA und MI6) gelungen, mit einer verdeckten Propagandaaktion unter dem Codenamen Ajax den demokratisch gewählten Premierminister Mohammad Mosaddegh zu stürzen, nachdem er die Verstaatlichung der iranischen Erdölproduktion und die Enteignung der ausländischen Anteile an der Anglo-Iranian Oil Company angeordnet hatte [12]. Die widerwärtige Aktion trug nicht nur zum späteren Sturz des Schahs und zum Aufstieg der Mullahs bei, sondern auch zu einem anhaltenden Misstrauen in der iranischen Bevölkerung gegenüber dem Westen. Von ausländischen Regierungen vorangetriebene Regime changes werden immer zu Bumerangs, die jüngere Geschichte ist voll von Beispielen dafür.

Motiv 5: Persönliches Überleben

Netanyahu dürfte nicht zuletzt ein ganz persönliches Motiv haben, den Krieg im Gazastreifen in die Länge zu ziehen und jetzt auch noch den Iran in einen Krieg zu verwickeln. In berlusconischer Manier versucht er, so lange wie möglich Ministerpräsident zu bleiben, um den Prozess wegen Korruption bei drohender Verurteilung hinauszögern zu können. Seit 2020 ist er wegen Betrugs, Veruntreuung und Korruption angeklagt. Je länger er behaupten kann, für die Sicherheit Israels an erster Stelle verantwortlich zu sein, desto länger kann er vorgeben, für Gerichtsverhandlungen schlicht keine Zweiot zu haben. [15][16] 

Im Kern handelt es sich dabei um eine private Anwendung der «Samson-Option»: Und wenn ich schon untergehen muss, dann alle anderen mit mir.

Quellen:

[1] https://www.zdfheute.de/politik/ausland/israel-iran-angriff-atomprogramm-100.html

[2] https://www.spiegel.de/wissenschaft/iran-israel-die-wahrscheinlichkeit-eines-atomkrieges-zwischen-israel-und-iran-ist-stark-gestiegen-a-176ec330-eb3c-42c1-880a-1f29ec640c2b

[3] Iran und die Bombe (1): Vom Partner zum Feind. ZDF, 15.03.2023. https://www.zdf.de/video/dokus/iran-und-die-bombe-ein-land-auf-dem-weg-zur-atommacht-100/iran-und-die-bombe-vom-partner-zum-feind-100

[4] Iran und die Bombe (2): Auf dem  Weg zur Atommacht. ZDF , 15.03.2023. https://www.zdf.de/dokus/iran-und-die-bombe-ein-land-auf-dem-weg-zur-atommacht-100?staffel=1

[5] Iran und die Bombe, ARD/Phönix, 13.06. 2025 https://www.ardmediathek.de/tv-programm/684bfba3d8d91bda0826e649

[6] Israels Atombombe, ZDF-History, 12.05.2013. https://www.youtube.com/watch?v=L4cF3kY3OVk

[7] Samson Option, https://en.wikipedia.org/wiki/Samson_Option

[8] Radio SRF, Echo der Zeit, Iran und Israel: Ist die Diplomatie gescheitert? https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/iran-und-israel-ist-die-diplomatie-gescheitert?partId=T-sn77GnjlsKyiJrLvoAkIdbZKE

[9] Reel von Bernard Hourcade, https://www.facebook.com/reel/688689047343550

[10] Gilad Atzmon, https://www.facebook.com/gilad.atzmon/posts/pfbid0EhY9RZtpPudJatagistyQjYkBRpQgX3Fg5rjpt4HR6TdwtnzAZomCgYhh1zEEwjml

[11] Rede von Netanyahu am 13.06. 2025, https://www.wsj.com/video/netanyahu-calls-on-iranian-people-to-overthrow-their-government/3FB0ED3A-7AB5-489F-82CD-1E4231E0ED2B

[12] Statement des iranischen Aussenministers vom 13.06.2025, https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/6/14/live-israel-warns-tehran-will-burn-after-deadly-missile-barrage-by-iran?update=3774465

[13] Operation Ajax, 1953, https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Ajax

[14] Warnung der IAEA, https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-04/iaea-risko-atomunfall-kriege-israel-iran-ukraine

[15] https://www.tagesspiegel.de/internationales/israels-hartes-vorgehen-in-gaza-benjamin-netanjahu-der-unerbittliche-krieger-13743736.html

[16] https://www.blick.ch/ausland/hat-sich-israels-premier-uebernommen-benjamin-netanyahus-schwerster-kampf-id20961572.html

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