Wenn ganz viele Menschen aus Afrika kommen

 

 

 

 

 

Hier schreibt ein Autor über die Migration von Afrika nach Europa aufgrund von Zahlen und Fakten, die bestimmte Überlegungen nahelegen, denen er nicht ausweicht, anders als viele in Europa, die sich nicht mit den Folgen auseinandersetzen wollen. Die aber kommen so oder so, die Frage ist nur, ob wir sie vorausschauend gestalten oder abwarten, bis sie über uns hereinbrechen.

«… und selbst meine Art, im Raum zu stehen, hat nie die Behauptungskraft gallischer Männlichkeit erreicht.»

Was für ein Satz! Kaum hab ich einen Blick ins Vorwort des eben eingetroffenen Buchs «Nach Europa!» von Stephen Smith geworfen, springt er mich an. Smith ist US-Bürger, in Deutschland aufgewachsen, hat in Deutschland und in Frankreich studiert, sich auf Afrika spezialisiert, war Redaktor bei Libération und Le Monde und lebt heute mit seiner französischen Frau als Professor in den USA. Dieser Wanderer zwischen Kulturen legt ein Buch vor, das für einen gestaltenden Umgang mit der Tatsache plädiert, dass Europas Bevölkerung schrumpft, während jene Afrikas rasch wächst. 

Wenn ein Autor ein Detail aus dem Alltag mit wenigen Worten, wie mit der Feder beiläufig skizziert einzufangen versteht, bin ich erst recht gespannt auf sein Buch.

Zwei Stunden zuvor hatte ich zufällig aus dem Fenster eine unwichtige Szene beobachtet, in welcher ein Mann in Begleitung seiner Frau und seines Sohns im Weitergehen, sich halb umdrehend, einer andern Frau, von der sie sich offenbar bereits verabschiedet hatten, noch etwas zur Antwort zurief. Mein Blick blieb an seiner Haltung haften, die er dabei eingenommen hatte, sehr aufgerichtet, hohl aber nicht steif im Kreuz, mit einem Schritt, als höbe er gleich zu tanzen an. Er hielt die Pose eine kurze Weile, lang genug, dass ich versuchen konnte, mich in sie hinein zu empfinden, sie in ihrer unnötigen Eleganz zu bewundern, ohne mir über deren machistischen Hintergrund Illusionen zu machen; dann ging er mit seiner Familie weiter, und während seine Haltung sich normalisierte, wurde er zum ganz gewöhnlichen Italiener von nebenan.
Ich hab’s danach heimlich versucht; doch ich weiss nicht mal, welchen Muskel ich wie spannen müsste, um derart toll dazustehen wie ein Torero vor seinem speziellen Ausfallschritt. Und dann les ich wenig später diesen einen Satz. Alles klar.

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Stephen Smith beginnt seine Überlegungen bei der unten dünnen Alterspyramide und dem tendenziellen Bevölkerungsrückgang in den satten Ländern des Westens. So gesehen müsste man dem grösseren Rest der Welt Sattheit bescheren – und die satten Ländern wären mehr als in der Lage dazu.

Die Rechte tut aktuell genau das Gegenteil: Sie will Europa und die USA abschotten gegen Zuwanderung und gleichzeitig für höhere Reproduktion der eigenen Rasse sorgen. 

Genau gegenläufig die Entwicklung in Afrika, wo die Bevölkerung seit gut einem Jahrhundert sehr schnell wächst, bereits 1,3 Milliarden Menschen zählt und in einer weiteren Generation 2,5 Milliarden betragen wird. 75 Prozent der Menschen in Afrika sind jünger als 35 Jahre, 51 Prozent jünger als 20, doch noch haben die Alten das Sagen, die Perspektiven für die Jungen sind eng und der Alte Kontinent zu Abenteuern verlockend nah – erst auf dem Bildschirm im Dorf, dann auch geografisch, wenn die Familie das Geld für die Reise des Sohns oder seltener der Tochter zusammengelegt hat in der Hoffnung darauf, der Emigrierte werde in der Ferne Arbeit finden und Geld senden können.

Unter den herrschenden Bedingungen nachkolonialer Ausbeutung, verhärteter Altenherrschaft und einer grossen Zahl von Jungen ohne Zukunft kann es gar nicht anders sein: Es werden noch viel mehr Menschen aus Afrika nach Europa kommen. Man kann sich mehr oder weniger erfolglos dagegen stemmen oder die Migration für beide Seiten klug organisieren – ein zentraler Gedanke von Smith. Eine kluge Massnahme könnte für ihn etwa darin bestehen, dass Europa die wanderungswilligen jungen Menschen aus dem überschäumend jüngsten Kontinent für ein paar Jahre aufnimmt, sie beschäftigt und berufsbegleitend ausbildet und sie dann wieder nach Afrika reisen lässt, um den Arbeits- und Ausbildungsplatz für den/die nächste Afrikaner/in freizugeben. Ein Austausch zwischen dem jungen und dem alten Kontinent zu gegenseitigem Nutzen: Europa käme zu mehr jungen Menschen, die an den Arbeitsplätzen und im Sozialsystem fehlen, Afrika bekäme eine Perspektive für jene Jungen, die einmal etwas anderes erleben wollen, und würde mit Rückkehrern mit einem professionellen Rucksack und Ideen beschenkt.

Angesichts einer heute in Europa wachsenden Stimmung gegen Migranten mag das klingen, als wäre Stephen Smith ein Träumer. Er ist im Gegenteil ein pragmatischer Realist, der die Fakten kennt und in einem klugen Buch auf den Punkt bringt.  Wenn so oder so noch viel mehr Menschen aus Afrika kommen werden, lasst uns daraus das Beste für alle machen!

Stephen Smith: «Nach Europa! Das junge Afrika auf dem Weg zum alten Kontinent». Deutsch von Dagmar Engel und Andreas Rostek. edition fotoTAPETA, Berlin, 2018, 238 S. ISBN 978-3-940524-75-1

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