Der Buchtitel ist etwas reisserisch, der scheinbar alles Essbare umfassende Untertitel gar irreführend – es geht in Krieners Magenbetrachtungen «nur» um Fleisch und Fisch sowie um deren künstliche Alternativen, als Zugabe zudem um Zucker und Wein. Gemüse, Obst und Getreide – alles nur Beilagen zu toten Tieren? – werden bestenfalls in Nebensätzen erwähnt, vor allem in den Kapiteln, die sich erfrischend kritisch mit Bio-Siegeln und Superfood auseinandersetzen.
Für den Titel kann Kriener wohl nichts, der wird ja oft von der Marketingabteilung des Verlags gesetzt. Aber was Kriener unter dieser grellen Verpackung liefert, ist wirklich lesenswert, überaus kenntnisreich und in der flotten Schreibe eines um die 68er Jahre flügge gewordenen Journalisten, dessen Artikel ich schätze.
«Die sogenannte Systemgastronomie hat jetzt erstmals die Nase vorn. Ihr Angebot ist das standardisierte und durchökonomisierte Essen für den schnellen Hunger. Geregelte Essenszeiten werden seltener. Und nur noch 42 Prozent der Deutschen nehmen ihre Hauptmahlzeit zu Hause ein. Das häufig zu beobachtende Essen im Gehen oder Stehen ähnelt dabei auf verblüffende Weise den Essgewohnheiten der Steinzeitmenschen, die bei ihren Streifzügen sofort aufassen was sie an Schnecken, Beeren oder Käferchen gerade finden konnten.»
Zum Niederbrechen lustvoll zu lesen – und es bleibt dabei auch das eine oder andere neue Wissen hängen oder wird, wenn man es schon zu wissen glaubte, ergänzt und gefestigt. Der Verzehr von Fleisch und Fisch wird einem nach der Lektüre bedenklicher und reduzierbar erscheinen, auf Siegel aller Art wird man sich mit mehr Vorsicht verlassen, auf mit Zucker versetzte Speisen öfter mal verzichten und Heilsversprechungen aller möglichen exotischen Wundergewächse eher misstrauen. Darauf ein gutes Glas Wein, gewusst wie!
Die Kirsche auf der von Kriener präsentierten Torte ist das Gespräch mit dem kritischen Agrarexperten Benedikt Härlin am Ende des Buches: Hier wandert der Blick weit über die Befindlichkeit deutscher Verdauung hinaus in die Welt, aus der so manches stammt, was wir uns im satten Westeuropa einverleiben – und was andernorts deshalb fehlt. Der Logik der industriellen Agri«kultur» und des Welthandels setzt das Buch den lokalen Ansatz kleinräumiger bäuerlicher Landwirtschaft entgegen, eine Schlussfolgerung im Sinne des «Weltagrarberichts» (Weltbank und UNI, 2008), an welchem Härlin mitgewirkt hatte.
Was heisst das für Verbraucher/innen? Kriener fasst es in seinem Epilog so zusammen:
«Kochen Sie also selbst. Eignen Sie sich Kompetenz und Ernährungswissen an, das funktioniert am besten am eigenen Herd. Regelmässiges Kochen ist ein Akt der Selbstbehauptung und muss nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Wer selbst einkauft und kocht, der weiss nicht ur, was er isst. Der macht sich allmählich auch lebensmittelschlau. Es wird zwar pausenlos über Essen und Ernährung geredet, aber es fehlt an Wissen und Beurteilungsvermögen.» Dem kann ich aus eigener Erfahrung nur zustimmen: Fertigprodukte sind in meiner Küche seit Jahrzehnten Mangelware; ich weiss schon, wieso.
Manfred Kriener, «Leckerland ist abgebrannt. Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur». Hirzel, Stuttgart, 2020. Taschenbuch, 238 S.
ISBN 978-3-7776-2815-8