Zigeuner darf man nicht mehr sagen. Warum?

Das ist ein Versuch. Keine Ahnung, ob Facebook oder andere Sittenwächter einen Text ungeschoren lassen, der das Wort «Zigeuner» nicht nur auf dem Cover des besprochenen Buchs, sondern auch im Text enthält. Soweit hat es diese verklemmte Gesellschaft mittlerweile gebracht, dass man einen herabsetzend gedachten Begriff zwar immer noch denken und danach handeln darf, aber sagen oder schreiben, um Himmelswillen nicht!!!

Ich wäre beispielsweise froh, es würde jemand an meiner Tür klingeln und fragen, ob ich Messer zu schleifen hätte. Oh ja, gern! Und ich würde sie dieser Personen nicht anvertrauen, weil sie ein Zigeuner ist und zu keiner «höheren» Tätigkeit fähig oder berechtigt, wie einst die Juden (aber die dürfen immer noch so genannt werden, vielleicht, weil sie sich selber so nennen – doch was, wenn sich Zigeuner oder Neger selber so nennen, zum Beispiel, um uns ihre Diskriminierung bewusst zu machen?). Nein, ich würde diesen Menschen meine Messer geben, weil ja niemand anders das noch anbietet in unserer Wegwerfgesellschaft. Und wenn mir so ein hilfreicher Mensch die Messer zurückbringt, würde ich ihn zu einem Kaffee einladen, und wir würden einander vielleicht ein wenig aus unseren Leben erzählen.

Früher gab es das noch. Als ich ein kleiner Bub war, klopfte einmal ein älterer Mann bei uns und fragte, ob wir Messer zu schleifen hätten. Meine Mutter liess mich unter der offenen Haustür stehen, holte ein paar Messer aus der Küche und gab sie dem Mann. Der versprach, sie anderntags zurückzubringen (was er nach meine Erinnerung auch getan hat, und zwar zur Zufriedenheit meiner Mutter). Ich fand das alles sehr spannend, die Figur dieses Mannes, dem es offenbar weniger gut ging als uns, die merkwürdige Art, in der meine Mutter mit ihm sprach, und die Tatsache, dass man Messer schleifen konnte, damit sie wieder besser schneiden. Beim Mittagessen erzählte Mutter meinem Vater von der Begebenheit; er ermahnte sie, sehr vorsichtig zu sein, wenn er die Messer bringe, denn das sei ein Zigeuner, bei so einem wisse man nie, und sie soll niemals mehr Messer zum Schleifen geben. Ich fand das seltsam, ich konnte es nicht zusammenbringen mit meinem Bild von diesem Mann, der mich aus seinem zerknitterten Gesicht freundlich betrachtet hatte. Er hätte so etwas wie ein Bruder sein können von unserer alten italienischen Haushaltshilfe, der Stina, die so gut war zu uns Kindern. Was also kann man bei denen nicht wissen? Ich weiss nicht mehr, ob ich danach gefragt hatte, jedenfalls ist mir keine Erklärung dafür in Erinnerung. Es war wohl so etwas wie mit den Italienern auf der anderen Seite der Bahnlinie in ihren Baracken, andere Leute, weniger wert als wir und irgendwie gefährlich; das wurde auch deutlich damals, als nachts die Zaunfabrik ennet der Bahnlinie lichterloh brannte und ich die Menschen, die gaffend aus den Häusern gekommen waren, sagen hörte: zum Glück brennt es bei denen da drüben und nicht bei uns. Ich verstand nicht, warum das weniger schlimm sein soll und warum man auf die anderen weniger Rücksicht nehmen müssen. Das ist bis heute so geblieben.

Fast siebzig Jahre später nahm die Ankündigung eines Buchs mit dem Titel «Zigeuner» meine Aufmerksamkeit gefangen; ich bestellte es sofort, dem Stapel noch zu lesender Bücher zum Trotz, und begann darin zu lesen, kaum war es bei mir in Italien eingetroffen. Mir war Vieles unbekannt, was Isabella Huser aufwendig über die unglaublichen Anfeindungen recherchiert hat, denen ihre Vorfahren in der Schweiz ausgesetzt gewesen waren; manchmal blieb mir der Atem stocken beim Lesen. Gleichzeitig konnte ich nicht einen Augenblick lang zweifeln an den behördlichen Ungeheuerlichkeiten und Anfeindungen aus der Bevölkerung; ich hatte schon vor Jahren gelesen, dass Pro Juventute in der Schweiz Kinder von Fahrenden ihren Eltern entrissen hatte (seither muss ich immer, wenn ich den Namen dieser Jugendhilfsorganisation höre, an den einstigen rumänische Schreckensapparat Securitate denken). Und ähnlich Schlimmes ist ja vielen Menschen im Lauf der Geschichte widerfahren, weil sie «anders» waren. Es liess sich beim Lesen dennoch schwer vereinbaren mit meinem in der Kindheit aus dem «Pestalozzikalender» allnachweihnächtlich erneut bestätigten Bild von der vorbildlichen und bewundernswerten Schweiz, das trotz besseren Wissens immer noch ein wenig in mir schlummert.

Dabei liegt die Stärke von Isabellas Buch nicht etwa in einer wortgewaltigen Anklage. Sie berichtet vielmehr fast nüchtern über die in Archiven belegten und von Verwandten im Lauf der Generationen erfahrenen Ereignisse, über deren Leben, worüber sie sich freuten und woran sie litten. Im durch Kriminalromane verwöhnten Sinn ist es kein spannendes Buch, und doch konnte ich es nicht weglegen, bevor ich zu Ende gelesen hatte. Die Art, wie Isabella erzählt, geht unspektakulär unter die Haut und wirkt lange nach.

Da waren auch meine Vorfahren dabei, die das verbrochen haben, die zumindest geschwiegen haben dazu und untereinander Witze gerissen darüber. Und damit, dass sie gestorben sind, ist das ja nicht einfach verschwunden. Vielleicht darum soll man heute nicht mehr «Zigeuner» sagen dürfen, damit weiterhin bestehende Ungerechtigkeiten unter dem Teppich bleiben. Dagegen kann dieser Roman helfen.

Isabella Huser: «Zigeuner». 256 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen. bilgerverlag, Zürich,
ISBN 978-3-03762-093-9

«Mein Vater sagte stolz: Wir sind Zigeuner», Interview mit Isabella Huser (Radio SRF, 57”)

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