Menschenverachtende Herrschaft am Beispiel der Bevölkerung Siziliens

Die Verlegerin Monika Lustig beschenkt mit ihrer kleinen feinen Edition Converso ein an mediterranen Sprachwelten interessiertes Publikum immer wieder mit Entdeckungen. So zum Beispiel mit zwei Büchern, die das den meisten wohl unbekannte Schicksal der sizilianischen Bevölkerung in zwei verschiedenen Epochen erzählen. Dass die Menschen in Süditalien und vor allem in Sizilien in fast jeder Hinsicht benachteiligt sind, weiss man aus den Medien wohl, dass ausser ihnen die Mafia, die Bürokratie und das römische Polittheater daran schuld, ahnt man. Aber wie kommt es, dass eine vor achthundert Jahren als Königreich unter dem deutschen Stauferkaiser Friedrich II. kulturell führende Region Europas zum zurückgelassenen Armenkind geworden ist?

Inquisition

In seinem 1964 erschienenen Essay «Tod des Inquisitors» beschrieb der aus Sizilien stammende berühmte Autor und Politiker Leonardo Sciascia (1921-1989) die drückende, lähmende Zeit der Inquisition in seinem Land in einer Eindringlichkeit, die einem beim Lesen oft erschaudern lässt. Die bis ins letzte Detail akribisch inszenierte Bosheit im Namen des rechten Glaubens, die unter der Führung spanischer Inquisitoren und unter tätiger Mithilfe einheimischer Würdenträger und einfacher Speichellecker dem Volk angetan worden war, ist kaum zu ertragen. Man duckt sich als Leser unwillkürlich, um von den Schergen nicht als Abweichler erkannt und denunziert zu werden. Denn was denen geschieht, die irgendwie auffielen, bleibt nur insoweit verborgen, als es die Übeltäter schützt, wird aber insoweit öffentlich vorgeführt, als es die Menschen in Angst gefügig hält. Höhepunkt dieses Theaters des Grauens ist die geradezu kunstvolle Belehrung, Verurteilung und opulente öffentliche Hinrichtung eines Mönchs, der zu zweifeln begonnen hatte und zum Rebell geworden war.– Die Inquisition hatte des damalige spanische Vizekönigtum Sizilien drei Jahrhunderte im Würgegriff; abgeschafft wurde sie erst 1782 von den Bourbonen, den neuen Herren Siziliens. Damit endet Sciascias Schilderung und lässt einen endlich aufatmen.

Die Beschreibung der psychologischen Kriegsführung gegen das Volk und die Zerstörung von Personen im Namen der Kirche ist etwas vom Erschütterndsten, was ich gelesen habe, erschütternder noch als Arthur Koestlers Roman «Sonnenfinsternis» über die stalinistischen Säuberungen in den 1930er Jahren. Ich verfalle auf diesen Vergleich nicht zufällig. Der Verlag hat nämlich dem Buch einen zweiten Essay von Sciascia hinzugefügt, «Der Mann mit der Sturmmaske» (1985). Die Hauptfigur ist ein von den faschistischen Schergen Pinochets umgedrehter Gewerkschaftsfunktionär, der maskiert entlang der Reihen von Gefangenen im Stadion geht und mit einem leisen Wink anzeigt, welche Personen verdächtig sind. Sciascia hatte seine Stimme immer wieder gegen den Missbrauch der Macht und die Knechtung und Erniedrigung von Menschen erhoben. Das vorliegende Buch mit dem Titel «Ein Sizilianer von festen Prinzipien» zu Ehren des 100. Geburtstags des Autors zeugt davon.

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Gelyncht im Paradies USA

Die Befreiung von der Inquisition mündete für die Bevökerung Siziliens nur in eine neue Herrschaft, nun unter den Bourbonen-Königen von Neapel und Sizilien. 1861 wurden Garibaldi und seine Truppen von den unterprivilegierten Sizilianern daher als Befreier empfangen. (Fast wäre Garibaldi danach auf geschichtsironische Art mitschuldig geworden am Sieg der etwas aufgeklärteren Kapitalisten der Nordstaaten; die hatten nämlich versucht, den international gefeierten Freiheitsheld als General der Bundesarmee gegen die Sezessionisten zu gewinnen. Doch Garibaldi sagte ab. Hätte seine Zusage das spätere Los der Sizilianer in den USA verbessert?)

Die verarmten Massen Siziliens wurden einmal mehr enttäuscht. Sie hatten auf die Handlanger der neuen Herrschaften gesetzt. Die neue, piemontesisch orientierte politische Elite des vereinigten Königreichs Italien aber wollte erst einmal ihren neuen Besitz im Süden reinigen vom hungerleidenden Gesocks. Zupass kam ihr dabei der neue Bedarf der Plantagenbesitzer im Süden der USA an billigen Arbeitskräften, nachdem sie den Krieg gegen die Nordstaaten und damit ihre Sklaven verloren hatten. Der 2015 auf Italienisch erschienene Essay von Enrico Deaglio beschreibt anhand von Zeugnissen und Dokumenten einen im heutigen Europa vollkommen undenkbaren Menschenhandel, den die italienische und die US-amerikanische Regierung organisiert hatten. Die USA halfen Italien, sich seiner Hungerleider ohne schlechtes Gewissen zu entsorgen. Zwischen 1880 und 1900 wurden hunderttausend Sizilianer über den Atlantik verfrachtet, ausgerüstet mit armseliger Habe und der Hoffnung auf Essen und Einkommen im gelobten Land. Dort angekommen, entpuppten sich die Versprechungen auf ein besseres Leben rasch als Finte, um sie unter die Fuchtel von rücksichtslosen Kapitalisten zu zwingen. Die Sizilianer wurden zu den neuen Negern im Land und bald genau so ausgegrenzt, erniedrigt, ausgebeutet und beim geringsten Verdacht straflos am nächsten Baum aufgeknüpft. 

Deaglio hat die Geschichte von sechs gelynchten sizilianischen Einwanderern trotz einer Mauer des Schweigens minutiös recherchiert. Erneut sehen wir uns in konkreten Personen mit einem vollkommen menschenverachtenden Herrschaftssystem konfrontiert, zu dem Kirche, Monarchie, Diktatur und Kapitalismus gleichermassen neigen. Genau darum sind Bücher wie die beiden vorliegenden so wichtig: damit wir nicht vergessen, was uns allen widerfahren kann, wenn wir herrschaftlichem Gebaren nicht von allem Anfang an Halt gebieten, im Kleinen wie im Grossen. 

Leonardo Sciascia: «Ein Sizilianer von festen Prinzipien» mit den beiden Essays «Tod des Inquisitors» und «Der Mann mit der Sturmmaske». Aus dem Italienischen von Monika Lustig unter Verwendung einer Übersetzung von Michael Kraus. Mit begleitenden Texten von Maike Albath und Santo Piazzese. 192 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen. Edition Converso, 2021. ISBN: 978-3-9819763-9-7

Enrico Deaglio, «Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika». Aus dem Italienischen von Klaudia Ruschkowski. 208 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen. Edition Converso, 2019. ISBN: 978-3-9819763-1-1

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