Tunnelbau ohne Rücksicht auf Verluste

Peter Beutler hat es erneut getan – unermüdlich erzählt er wahre Begebenheiten als Kriminalromane und erschreibt sich so die Freiheit, auf der Grundlage des gesicherten Materials mögliche Puzzleteile zu erfinden für das, was noch aufzuklären bleibt oder wegen irgendwelcher höherer Interessen vielleicht gar nie geklärt werden soll. Ich habe Beutlers «Balance überm Abgrund geheim gehaltener Fakten» schon früher bewundert; vermutlich nur deswegen habe ich meinen jahrzehntealten Plan, das spätere Schicksal der plötzlich und spurlos aus der Geschichte der Spätantike verschwundenen Vandalen zu erfinden, noch nicht ganz aufgegeben.

Fünfzehn Romane hat der pensionierte Chemiker und Gymnasiallehrer  in den vergangenen dreizehn Jahren publiziert, jeder sein Papier und die Lesezeit mehr als wert. Sein neustes Werk ist eine grandiose Räuberpistole, die mir mir keine Ruhe liess, bis ich sie zuende gelesen hatte. Weil Beutler die Geschichte einmal mehr packend erzählt – und weil das Wichtigste davon ja wirklich passiert ist, noch dazu rund um einen See und eine Bioforellenzucht, die ich einst gut kannte. 

Beim Bau des Basistunnels durch den Lötschberg zwischen den Kantonen Bern und Wallis waren grosse Mengen von hochtoxischem Sprengstoff eingesetzt worden. Die illegale Entsorgung des kontaminierten Ausbruchmaterials hat nicht nur Tausende von Fischen im Thunersee krank gemacht und Tausende von Zuchtforellen getötet; das Gift sickerte auch ins Trinkwasser im Tal und gefährdete die Gesundheit von Menschen.

Als private und polizeiliche Recherchen der illegalen Deponie von Ausbruchmaterial auf die Schliche kamen, versuchten die Behörden von Bund und Kanton Bern, den Umweltskandal und Verstrickungen mit der internationalen Abfallmafia unter dem Teppich zu halten. Wer den Skandal aufzudecken versuchte, wurde bedroht. Selbst die drei Schweizer Wirtschaftsführer, denen der bekannte Ausflugsort Blausee und die gleichnamige Fischzucht gehört, haben grosse Mühe, Recht zu bekommen. Eine fast unglaubliche Geschichte, die Beutler kunstvoll mit der Grossexplosion von 1947 in der nahegelegenen Munitionsfestung Mitholz verknüpft, für deren definitive Räumung die Dorfbevölkerung in den nächsten Jahren evakuiert werden soll. 

Im Roman freut sich Kriminalkommissar Stucki vorschnell auf Urlaub und Frühpensionierung und muss schon anderntags wieder an die Säcke, weil der Fall wegen überraschender neuer Erkenntnisse wieder aufgerollt werden muss. So könnte es vielleicht auch Autor Beutler gehen, wenn ans Licht kommt, warum die illegale Entsorgung des Tunnelaushubs überhaupt nötig geworden war. Schuld daran war ja vor allem die von oben befohlene Eile. Der Lötschbergbasistunnel war Teil des Grossprojekts Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT), das wegen seines hohen politischen Stellenwert des rechtzeitig fertig werden sollte. Wer sass denn ganz oben in dieser Befehlskette? Der Zürcher Sozialdemokrat, Vorzeigepolitiker und Festredner Moritz Leuenberger, der von 1995 bis 2010 als Mitglied der Schweizer Regierung das für Verkehr zuständige Dossier leitete. In seine Verantwortung fiel die entscheidende Phase der Umsetzung der NEAT-Pläne (die Bauarbeiten im Lötschberg dauerten von 1994-2006).

Offenbar hatte Leuenberger Druck auf die Einhaltung der engen Zeit- und Kostenpläne ausgeübt, wie in Wikipedia zu lesen ist: «Kritiker, namentlich die SVP, warfen ihm jedoch während Jahren vor, mit der NEAT ein überdimensioniertes Prestigeprojekt verwirklichen zu wollen, und befürchteten, Leuenberger habe den Zeitplan und die Kosten der NEAT nicht im Griff.»

Ich hätte dir die Ruhe ja gegönnt, lieber Peter Beutler, aber offenbar ruft die Pflicht, auch wenn es diesmal einen Parteigenossen treffen könnte.

PS: Das Kochrezept im Buch ist nur zu empfehlen bei frischen und durchwegs kühl gelagerten Forellen; andernfalls müssen die Filets beidseitig gebraten werden, und sicher nicht nur kurz niedergegart.

PPS: Nachdem Moritz Leuenberger 2010 aus dem Bundesrat zurückgetreten war, liess er sich in den Verwaltungsrat des grössten Schweizer Baukonzerns Implenia wählen. Implenia war federführend am Bau des NEAT-Basistunnels am Gotthard beteiligt. Schon 2008 hatte sich Leuenberger hinter einen seiner Chefbeamten gestellt, der nicht ganz freiwillig aus dem Hause Batigroup (heute Implenia) zum Bund gestossen war. (Ich gebe zu, ich hatte gegenüber Moritz schon bei den Jusos kein gutes Gefühl. Soviel zu meinem privaten Erkenntnisinteresse.)

Peter Beutler: «Der Blausee-Skandal». 352 Seiten, Taschenbuch oder e-Book. Emons-Verlag, 2023. ISBN 978-3-7408-1948-4

Im Magazin «Reportagen» wurde die Blausee-Geschichte ebenfalls umfangreich aufgearbeitet und in einer szenischen Lesung vorgeführt – beim anschliessenden Gespräch mit einem Umweltgeologen bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Lesens- und hörenswert! 

Eine Antwort hinterlassen