Die «anni di piombo», die bleiernen 1970er Jahre, waren in Italien, wie in Deutschland, geprägt vom Zusammenbruch alter Konventionen in den Studenten- und Arbeiterrevolten (1968) und von einer zunehmend härteren Auseinandersetzung zwischen der Neuen Linken und der Reaktion der herrschenden Kreise, bis hin zu offener Gewalt sowohl der Staatsorgane wie auch der militarisierten Aktionsgruppen (Brigate Rosse, RAF und andere). Italien ist ein relativ junger Staat, in den 1860er Jahren von den piemontesischen Truppen bis ganz in den Süden «vereinheitlicht», was zumindest in Sizilien [1] das Schicksal vieler Menschen eher verschlechterte; die Bruchlinien zwischen Norden und Süden bestehen bis heute, auch die neue republikanische Verfassung nach dem Ende des Faschismus’ konnte sie nicht wirklich kitten.
Italien wurde zwischen 1969 und 1980 von sieben grossen Terroranschläge erschüttert, bei denen auf öffentlichen Plätzen, in Bahnhöfen und einem Schnellzug insgesamt über hundert Menschen starben und Hunderte verletzt wurden. Die Anschläge wurden zuerst linken Aktivisten zur Last gelegt, sie erwiesen sich aber allesamt als von Neofaschisten geplant und ausgeführt.– Die Brigate Rosse verfolgten eine andere Strategie. Ab 1972 entführten sie verschiedene Exponenten der Industrie und des Staates und machten ihnen den «proletarischen Prozess im Volksgefängnis», nach dem Motto «Schlage einen, um hundert zu erziehen». Zunächst genossen diese Aktionen eine gewisse Sympathie in einigen Gesellschaftsschichten und vor allem bei politischen Aktivisten auf der Linken, während die Presse die terroristischen Akte verurteilte, auch die linke Presse, die sie für Aktionen faschistischer Provokateure hielt.
Ab 1973 entwickelte der Sekretär des bedeutenden, aber nie in die Regierung einbezogenen Partito Comunista Italiano (PCI), Enrico Berlinguer, die Idee eines «Historischen Kompromisses» zwischen seiner Partei und den regierenden Parteien von der grossen Democrazia Cristiana (DC) über Liberale bis zu den Sozialisten, um der Krise des Landes zu entgegnen. Auf Seiten der DC wurde dieser Vorschlag vor allem von Aldo Moro (DC) unterstützt, bis 1976 Ministerpräsident einer Minderheitsregierung und danach Präsident der DC. Dieses Bündnis verständigte sich in der Folge auf eine Reihe von Gesetzen und nach den Wahlen von 1976 auch auf eine Minderheitsregierung der DC als stärkster Partei unter Ministerpräsident Giulio Andreotti mit aktiver Duldung des PCI, der 33 Prozent der Stimmen errungen hatte. Der Kompromiss hatte allerdings eine Zuspitzung der politischen Auseinandersetzung an den Rändern zufolge; linksaussen wollte man eine weitere Verwässerung [2] der kommunistischen Position verhindern und rechtsaussen keinesfalls Kommunisten indirekt an der Regierung wissen.
Das war die Lage, als Aldo Moro sich am 16. März 1978 ins Parlament aufmachte, wo just ein wichtiger Entscheid im Interesse des Kompromisses bevorstand. Auf dem Weg wurden seine fünf Leibwächter von einem Kommando der Brigate Rosse ermordet und er selber in ein «Volksgefängnis» entführt. Dort wurde ihm ein langer, quälender «Prozess» gemacht, während die Entführer auf Verhandlungen über die Freilassung von gefangenen Genossen hofften. Doch Moros Parteifreunde und die Institutionen des Staates wollten nicht darauf eintreten, die Polizei war sieben Wochen lang trotz zahlenmässigen Grossaufgebots nicht fähig, Moros Gefängnis ausfindig zu machen, und die hilflosen Vermittlungsversuche der Kirche führten zu keinem Ziel. Am 9. Mai schliesslich wurde Moro ermordet.
Seit 1967 hatte ich die italienische Politik verfolgt, zunächst seltsam fasziniert über die ständigen Regierungswechsel und über den PCI, die grösste und politisch bedeutendste kommunistische Partei im Westen. Die Affäre Moro hatte ich damals intensiv verfolgt, ihr Ausgang bewegte mich sehr. Umso mehr kann ich heute nachvollziehen, was in jenen Monaten in Leonardo Sciascia vorgegangen sein muss, der als scharfsinniger politischer Autor die Spiele hinter der Bühne kannte. Jeden Sommer zog sich Sciascia auf seinen Landsitz zurück, um dort einige Monate lang in Ruhe ein neues Buch zu schreiben. Im Sommer 1978 fand er keine Ruhe, die Affäre Moro trieb ihn um und um, er musste einen Weg finden, im ganzen christdemokratischen Politgeflecht von Lüge, Niedertracht und Unmenschlichkeit die Wahrheit literarisch zu finden.
Was Sciascia nach jenem Sommer unter dem Titel «L’Affaire Moro» vorlegte, ist ein bis heute beeindruckender, blitzgescheiter und aktueller Essay über Mensch, Gesellschaft und Macht. Ich stelle mir vor, dass Sciascia zeitweise in einem wahren Furor geschrieben hat, in einem heiligen Zorn über die allglatte, bigotte Schönsprache der Untätigkeit, über die Granden einer bereits dem Zerfall geweihten Partei, die ihren Freund, den sie zwei Jahre zuvor gegen seinen Willen ins Parteipräsidium gedrängt hatten, um ihn zu neutralisieren, weil er einen Kopf grösser war als sie alle zusammen, feige im Stich liessen, geradezu froh darum, dass die Terroristen ihn entsorgen würden. Die Intellektuelle Schärfe, mit der Sciascia die Unfähigkeit der Sicherheitsorgane zerlegt, Moro lebend zu finden und zu retten, fast so, dass man denkt, sie hätten den Auftrag gehabt, genau das nicht zu tun, wirkt wie ein Blitzableiter für den Zorn, der sich beim Lesen aufbaut. Dann wieder stell ich mir vor, wie Sciascia sich der Ruhe entsinnt, die er hier im Sommer finden wollte; er nimmt sich zurück, taucht ganz in die Situation von Moro ein, von einem Tag auf den andern abgeschnitten von seinem ganzen Netzwerk, zusehends alleingelassen in der Gewalt einer nicht wirklich berechenbaren Gruppe von Brigadisten, deren Handeln möglicherweise mit den anderen Genossen gar nicht abgesprochen ist; er denkt sich in Moros Kopf hinein, fühlt sich in seine Seele und entziffert die Spuren seines Verhaltens in den Briefen, die er an die Partei, an die Regierung, an seine Frau schreiben darf. Als Meister der Sprache weiss Sciascia, dass Moro sich den Politsprech angeeignet hat, ohne dessen Absicht des Verschleierns wirklich zu teilen; er weiss, das Moro ein Meister in dieser Sprache ist und kann daher die Zeichen deuten, die Moro in seinen Briefen unter dem Radar des brigadistischen Verstehens mitzuteilen versucht, und er verzweifelt mit ihm, dass niemand in Partei, Regierung und Polizei die Hinweise auf den Ort seiner Gefangenschaft zu verstehen scheint.
Kern des Essays ist die Frage, ob ein Staat mit Terroristen verhandeln soll, um das Leben eines Menschen zu retten, oder ob er Verhandlungen kategorisch ausschliessen muss, weil er sonst erpressbar würde. Moro spricht das in seinen Briefen mehrmals an, flehend nicht um sein Leben, sondern um ein Handeln im Sinne christlicher Werte, im Sinne der Werte eines demokratischen Staates der Gegenwart. Er verweist dabei auf vergleichbare frühere Fälle, in denen er sich für Verhandlung ausgesprochen hatte. So er überhaupt Antwort erhält, wird auf seine Frage nicht eingetreten. Selbst der halbherzige Vorschlag des Papsts, sich an Moros Stelle in die Gefangenschaft der Brigadisten zu begeben, macht einen Bogen um Moros Frage.
Und so, von allen verlassen und nicht erreichbar für seine Angehörigen, die ihn sehnlich zurück wünschen, endet er als Leiche, abgelegt in einem roten Fiat in Rom, unweit der Stelle, an der er entführt worden war, und um sicher zu gehen, dass die Polizei ihn diesmal findet, muss ein Brigadist anrufen und dabei das Risiko auf sich nehmen, entdeckt zu werden. Das liest sich wie das komödiantische Ende einer unglaublichen Tragödie.
Das von Monika Lustig neu übersetzte und verlegte Buch liest sich nicht flüssig wie ein Roman, zwingt öfter zum Innehalten, zum Blättern in der beigefügten Zeittafel oder den Fussnoten, doch die Lektüre ist ein Gewinn für alle, die jene Epoche besser verstehen möchten oder die sich mit der ethischen Frage des Verhältnisses von Staat, Individuum und Macht neu auseinandersetzen wollen.
[1] Die Geschichte Süditaliens und besonders Siziliens unterscheidet sich deutlich von jene Mittel- und Norditaliens, wie zwei Bücher über die Zeit der Inquisition und über die Zeit nach dem Anschluss ans italienische Königreich deutlich machen.
[2] Schon nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren viele linke Partisanen nicht einverstanden mit der versöhnlichen Haltung der Kommunistischen Partei gegenüber ehemaligen Faschisten und Kollaborateuren, was in diesem Buch dargestellt wird.
Leonardo Sciascia: «Die Affaire Moro. Ein Roman». Mit einem Nachwort von Fabio Stassi. Übersetzt von Monika Lustig. 240 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen. edition converso, Karlsruhe, 2023 (2. Auflage). ISBN 978-3-949558-18-4
Video mit der Übersetzerin und Verlegerin