Wolf Canis lupus (Foto: Tracy Brooks / Wikimedia Commons)
«Deep Ecology» nannte der norwegische Philosoph Arne Næss die Haltung, aus der heraus wir Menschen allem Leben begegnen sollten, im Anerkennen, dass alle Arten in der Biosphäre grundsätzlich gleichberechtigt sind. Dieser Ansatz reicht tiefer als der Veganismus, weil das Bewusstsein der «Verbundenheit im Recht auf ein gutes Leben», wie ich es nenne [1], nicht nur (bestimmte) Tiere einschliesst, sondern alles, was lebt. Mitakuye Oyasin, alle meine Verwandten, wie die nordamerikanischen Ureinwohner sagen: Alles Leben ist miteinander verbunden, und zwar derart, dass es ganz selbstverständlich ist, den Baum, dessen Holz, oder den Bison, dessen Fleisch und Fell man benötigt, um Verzeihung zu bitten. Eine derartig Haltung ist für von der Kolonisierung noch wenig tangierte Indigene eine praktisch-mystische Selbstverständlichkeit. Respekt als grundlegende Haltung beim Nutzen anderen Lebens: so wenig wie nötig und so schonend als irgend möglich.
Eine Ethik und damit auch jede Philosophie ohne solch radikales Verständnis des Lebens und unserer eigenen Stellung darin bleibt Bruchstück, weil sie sich nur mit dem Menschen befasst, als liesse sich unsere Art wie ein Geistwesen losgelöst von den Bedingungen ihrer Lebensrealität und Herkunft betrachten und analysieren.
Angst frisst Personen auf
Das Bewusstsein einer allumfassenden Verbundenheit und eine dementsprechende prägen aber derzeit und seit vielen Jahrhunderten schon gerade nicht das Denken und den Alltag der meisten Menschen. Statt im Einklang mit allem Leben befindet sich die Menschheit in einem andauernden Kampf gegen alles, auch untereinander. Angst prägt diese Lage. Autoritarismus scheint vor der Angst zu schützen: Angst des Reichen, von den Massen der weniger Begüterten enteignet zu werden. Angst des Armen, von den Reichen noch mehr in den Abgrund gestossen zu werden. Angst des Vorgesetzten, seine Untergebenen könnten einen Fehler begehen und damit seine Stellung bedrohen. Angst des Untergebenen, vom Vogesetzten beim kleinsten Fehler gefeuert zu werden. Und natürlich die in Faschismustheorien klassische Angst des Mittelstands, deklassiert zu werden.
Angst kommt auf bei allem, was anders ist und so fremd, dass es den gegenwärtigen Zustand gefährden könnte. Damit wir mit der Angst umgehen können, suchen wir sie zu personalisieren, machen sie zur Furcht, etwa vor Ausländern, Flüchtlingen, Demonstranten. Oder bei Inflation: die Banker, die Politiker. Oder wegen der Globale Erwärmung: ähm, ah ja, Greta Thunberg. Oder angesichts der Bedrohungen durch die Natur: genau, die Wölfe!
Hauptsache, man kann mit Menschen, die sich wie Autoritäten aufführen, einer Meinung sein, indem man nach ihrer Pfeife tanzt, und sich dabei stark fühlen, und all jene treten, die nicht mittun.
Das Problem mit den Wölfen
Næss plädierte [3] nicht nur für Schutzmassnahmen gegen Wölfe, wie Zäune und Herdenhunde, sondern auch dafür, Bauern zu entschädigen, wenn ein Wolf eines ihre Tiere reisst. Er wurde dafür von Gleichgesinnten kritisiert, die wohl nicht ganz verstanden hatten, was Gleichberechtigung aller Spezies bedeutet. Eine Entschädigung würde ich allerdings dann unterlassen, wenn ein Bauer eine abgelegene Weide nur deshalb mit Schafen bestückt, weil er dafür ohne grossen Aufwand Direktzahlungen kassieren kann, ohne Wolle oder Milch zu gewinnen, ein zumindest in der Schweiz mit ihrer eher mageren Schaftradition heute kein seltener Fall. Zumindest müsste ein geschädigter Tierhalter nachweisen können, dass er die nötigen Schutzmassnahmen getroffen hatte.
Im Allgemeinen handelt es sich in der heute in Europa üblichen Haltung von Nutztieren um ein autoritäres Verhalten von Menschen (Bauern, Händler, Metzger und Konsumenten) gegenüber Tieren. Bei der grossen Anzahl von Tieren in den Ställen besteht keine Möglichkeit, auf die wirklichen Bedürfnisse der Tiere einzugehen und ihnen das Ausleben ihrer arteigenen Verhaltensrepertoires zur ermöglichen. Im Sinne der Artikel 1 und 3 des Schweizer Tierschutzgesetzes müsste beim Gros der Schweizer Nutztierhaltung genau genommen von Verletzung der Würde und des Wohlergehens der Tiere und demzufolge von deren Misshandlung gesprochen werden.
Wer Tiere schlecht quält, tut es auch bei Menschen
Wir sind uns gewohnt, Tierquälerei als Tat einer psychisch kranken Person zu sehen. Eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt jedoch, dass die Misshandlung von Tieren auch mit dem Grad der autoritären Haltung des betreffenden Menschen zusammenhängt [4]. Der französische Sozialpsychologe Laurent Bègue und der australische Psychologe Kevin Vezirian liessen sich vom legendären Experiment inspirieren, mit welchem der US-ameirkanische Psychologe Stanley Milgram 1961 gezeigt hatte, dass man einen Menschen in einem autoritären setting gegen sein Gewissen dazu bringen kann, einem anderen Menschen Qualen zuzufügen. (Es handelte sich um fingierte Stromstösse steigender Stärke und um gespielte Schmerzreaktionen der vermeintlichen Opfer.) Im Experiment von Bègue und Vezirion wurden die Versuchspersonen aufgefordert, einem Fisch im Rahmen eines angeblichen Lernexperiments eine schädliche chemische Substanz zu verabreichen, die bei zunehmender Dosis zum Tod führe. Fast alle Versuchspersonen steigerten die Dosis, bis der Fisch (in Wahrheit ein Roboter) tot war. Überdurchschnittlich hohe Dosen verabreichten Personen mit geringer Empathie, hohem Speziesisums oder starker Orientierung an sozialer Dominanz, sowie generell die Männer.
Auch wenn die Studie einige methodische Fragen sowie Fragen für weitere Forschung aufwirft, trägt sie dazu bei, das gängige Narrativ von psychopathologischen Ursachen der Tiermisshandlung zu durchbrechen. Das Ergebnis des Experiments lässt sich als Formel zusammenfassen: Wer andere Menschen von oben herab behandelt, verhält sich auch Individuen einer anderen Spezies gegenüber herrisch – et vice versa. Damit schliesst sich der Kreis zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen.
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Quellen:
[1] «Tiere nutzen? Und Pflanzen?». edition mutuelle, Winterthur, 2017. 978-3-9524784-0-0, Seiten 210 ff.
[2] ebd., Seiten 218 ff.
[3] “Europe has a wolf problem, and a late Norwegian philosopher had the solution”