Es ist nicht das erste Buch der Schweizer Biologin Florianne Koechlin über die fantastischen Fähigkeiten von Pflanzen und Tieren. Aber es ist vielleicht ihr dichtestes, das tief in die feinsten Verästelungen und Verbindungen des Lebens in allen seinen Formen reicht. «Streifzüge durch wissenschaftliches Neuland» nennt die Autorin ihr Schreiben. Da kommunizieren Pflanzen mit Artgenossen, mit Pflanzen anderer Arten, mit Tieren und Pilzen, und diese wiederum mit Pflanzen, fast wie in einer Märchenwelt oder wie in den animistischen Vorstellungswelten angeblich primitiver Gesellschaften.
«Animismus» oder «Wissenschaft»?
Die sozusagen von Descartes ausgehende, technische Wissenschaft, die versucht, die uns umgebenden «Maschinen» zu verstehen, um sie zu nutzen, hat uns blind gemacht, Dinge zu sehen, die man gemäss Saint-Exupéry «nur mit dem Herzen gut sieht». Oder anders gesagt geht es um ein tieferes Verständnis der uns umgebenden und beherbergenden Natur, um ein Urwissen von Menschen, deren Verstand nicht verstellt war durch technische Aneignung der Welt. Ein Verständnis, dass durch die heutige approbierte Wissenschaft mehr und mehr rehabilitiert wird; es macht sich inzwischen in akademischen Kreisen nicht mehr so sehr verdächtig, wer nach Gefühlen, Intelligenz und Persönlichkeit bei Tieren und selbst Pflanzen forscht. Und wenn wir es klug anstellen, können wir davon profitieren, indem wir etwa das plötzliche Leuchten bestimmter Pflanzen als Signal für eine bevorstehende Dürre verstehen lernen.
Sogar in «lebloser» Materie beginnen Wissenschafter um den Mineralogen Robert Hazen und den Astrobiologen Michael Wong das Prinzip der Evolution zu erkennen: Die uns umgebenden Dinge werden immer reichhaltiger und komplexer. Sind Dinge wie zum Beispiel ein Fels am Ende gar beseelt, hätten also die amerikanischen Ureinwohner doch recht gehabt?
Vielfalt im Kleinsten macht gesünder und stabiler
Die Biologin und Malerin Florianne Koechlin geht anders vor, in gewissem Sinne weiblicher und kreativer. Sie nimmt uns mit auf eine spannende Reise zu Forscherinnen und Forschern, die in ihren jeweiligen Bereichen die Grenzen des Wissens zu erweitern suchen. Es beginnt im Kleinsten, bei den Mikrobiomen, die alles Leben verbinden. Mikrobiome sind Lebewesen jenseits unseres Sehvermögens, die sich im Darm, im Boden, im Wasser, überall befinden. «Die Mikrobengemeinschaften sind für alle Organismen überlebenswichtig», erklärt die Potsdamer Professorin Gabriele Berg; aber die Beziehung ist nicht einseitig: «Die Pflanze kultiviert aktiv ein bestimmtes Set von Mikroben in ihrem Wurzelbereich. Sie nimmt nicht alle Kleinstlebewesen an, sondern in der Regel nur solche, die ihr nützlich sind.» Das öffnet eine ganz neue Sicht auf die Produktion unserer Nahrung. Koechlins Vision: «Vielfalt auf allen Ebenen, im Boden, auf dem Feld, überall. Je vielfältiger, desto stabiler und gesünder ist ein Ökosystem, sei es im Boden, in den Pflanzen, in den Früchten oder in unserem Darm.»
Die Grenzen der Sprache im Verstehen von Pflanzen
Das gleiche Prinzip gilt auch auf höherer Ebene, zum Beispiel für das vielfältige Leben in den Kronen von Eichen. Erstaunlich die Erkenntnis: «Es ist nicht der Baum, der entscheidet, welche Duftstoffe [zur Abwehr] wo produziert werden sollen, sondern das Blatt. Ein einzelnes Blatt, ein einzelner Eichenast kann seine Abwehr hochfahren, wenn eine Raupe an ihm frisst. (…) Eine solche Teilautonomie gibt einer Eiche grösstmögliche Flexibilität.»
Koechlin folgert: «Pflanzen sind keine “langsamen Tiere”, sie sind radikal anders. Doch wir müssen sie mit unserer Sprache beschreiben. (…) Ich behaupte nicht dass Pflanzen eine Art von Bewusstsein, eine Art von innerem Erleben haben – das wissen wir nicht. Doch die wissenschaftlichen Argumente sind uns abhanden gekommen, dies den Pflanzen kategorisch abzusprechen.»
Und zur Frage der Kommunikation zwischen nicht-menschlichen Individuen meint Koechlin: «Für mich bedeutet Kommunikation, dass ein Lebewesen (oder eine Zelle) eine Botschaft aussendet; der Empfänger kann diese entschlüsseln, also interpretieren, und antwortet darauf. Es ist das Gegenteil von einem automatischen Informationsaustausch, der immer gleich und vorgespurt abläuft.»
Die Ameisen und die Grenzen experimenteller Forschung
Auf Besuch bei russischen Ameisen-Forscherinnen zerbröselt die politisch bequeme neodarwinistische Sicht auf eine vermeintlich starr hierarchische Staatenbildung dieser Insekten. Eine Verhaltensbeobachtung über längere Zeit zeigte eine grosse Individualität der Tiere: «Einige Ameisen waren immer extrem aktiv und kamen oft mit Futter zurück. Andere versteckten sich faul hinter einem Grashalm oder Stein. (…) Das Team beobachtete Räuberameisen, die heimkehrenden Schwestern blitzschnell das Futter stahlen. Oder Ameisen, die sich gegenseitig halfen.» Forscherin Olga Bogatyreva folgert: «Ameisen sind Individuen mit ganz unterschiedlichen Charakteren. Statistiken sind unbrauchbar, da die Datenabweichung von einem statistischen Mittel selbst für eine einzelne Ameise riesig gross ist.»
Bogatyreva erzählt von einer Beobachtung, bei der zwei Ameisen versuchten, ein im Gras feststeckendes und für sie viel zu grosses Bein einer Heuschrecke als Beute nachhause zu tragen; sie lösten das Problem schliesslich mit dem Hebelgesetz. Das lege nahe, «dass Ameisen lernen, Entscheide fällen, dass sie kreativ sind und ihre Aktionen planen.» Aber ein Beweis sei das nicht; denn «es war eine Ausnahmebeobachtung, kein Experiment. Solche Einzelhandlungen können nicht wiederholt werden. Doch sie öffnen den Blick für weitere Forschung. Wenn wir uns nur auf Laborexperimente und deren statistische Auswertung verlassen, schliessen wir sehr vieles aus. Dann werden wir blind und erhalten nur die Antworten, die wir erwarten. (…) Dabei geht die Haupteigenschaft dessen, was Leben ausmacht, unter: kommunizieren, Informationen austauschen, soziale Beziehungen aufbauen, sich vernetzen.»
In einem weiteren Beispiel berichtet Bogatyreva davon, wie ein Ameisenvolk durch künstlich herbeigeführte Zuwanderung zuerst in Chaos geriet. «Aber dann nach einer gewissen Zeit konnten wir beobachten, dass einige ältere und erfahrene Ameisen lange zusammenstanden und mit ihren Antennen miteinander kommunizierten. (…) Die älteren Ameisen hatten aus dem Chaos ein wohlorganisiertes Ganzes, eine ganz neue Organisation geschaffen.»
Mehr verweben und verflechten in der Landwirtschaft
In der zweite Hälfte des Buches widmet sich Koechlin einem ihrer jahrzehntealten Themen. Sie erzählt zahlreiche Beispiele anderer Formen von Landwirtschaft: über die weltgrösste Bio-Umstellung in Indien, über das uralte Dreigestirn von Mais, Bohnen und Kürbis in Lateinamerika, über den Aufbau von Humus auf einem Schweizer Bauernhof, über die Bedeutung von Mischkulturen oder die Chancen digital gesteuerter Maschinen im Landbau – aber auch über die Gefahren der Kontrolle der Daten durch wenige Tech-Giganten.
Mehr sei hier nicht verraten; «verwoben & verflochten« ist ein ausgesprochenes Lesebuch, und es lohnt sich, es in der vorgegebenen Reihenfolge Kapitel für Kapitel zu lesen, mit Pausen zwischendurch, vielleicht einem Spaziergang, um die vielen Gedanken, die einem beim Lesen durch den Kopf gehen, zu sortieren, bevor man weiter liest. Der Reichtum an Wissen und Anstössen in diesem Buch verlangt aktives Lesen; es wird reich beschenkt.
PS: Florianne Koechlin hatte für ihr Buch auch mit mir gesprochen, um von meiner Arbeit über Leben und Wohl der Fische zu erfahren. Das ist der einzige Beitrag «unter» Wasser in diesem Buch. Das Interview fand zu einem vielleicht etwas ungünstigen Zeitpunkt statt; ich wusste damals nicht, dass das Verwobene und Verflochtene die thematische Klammer des Buches sein würde, und bei der weiteren Arbeit am Buch hatte ich den von mir aufgebauten Verein fair-fish bereits verlassen. So steht das Kapitel über Fische etwas verloren im Buch, und als Leser würde man nun gern erfahren, wie denn das Leben in den Flüssen, Seen und Meeren verwoben und verflochten ist, zumal man meint, gehört zu haben, dass die Artenvielfalt unter Wasser noch viel grösser sei. Ein weiteres Buch von Florianne Koechlin über diese Welt wäre ein Gewinn!
Florianne Koechlin: «verwoben & verflochten. Was Mikroben, Tiere und Pflanzen eint und wie sie uns ernähren». 288 Seiten, Paperback, Lenos Verlag, Basel 2024. ISBN 978-3-03925-037-0