Das Buch mit dem fast verführerischen Titel «Handbuch zum Umgang mit Grenzen» versetzt einen beim Lesen fast körperlich spürbar in die Lage eines Menschen, der weg will, jetzt und möglichst weit weg aus Verhältnissen, in denen es für ihn keine Zukunft geben wird.
Das ist die persönliche Geschichte des 1967 in Albanien geborenen und dort aufgewachsenen Schriftstellers Gazmend Kapllani. Seine Familie wurde von der kommunistischen Diktatur des Landes in eines der vielen Verbannungsdörfer umgesiedelt, in denen politisch verdächtige Personen besonders überwacht wurden. Von hier blickte der junge Mann mit Leidensgenossen über die nahe Grenze, hinter der in klaren Nächten die Lichter der ersten Krieg in die Stadt zu erkennen waren, sozusagen das Paradies, und gemeinsam träumen sie vom Abhauen bei Nacht und Nebel dorthin, wohlwissend, dass der Versuch schon einigen misslang, mit gravierenden Folgen. «Wir waren dazu verdammt, entweder nur zu mutmassen, was auf der anderen Seite der Grenze existierte, oder die Idee, dass es jenseits der Grenze noch eine andere Welt gab, vollständig aus unserem Hirn zu verbannen, was eine gute Methode war, um zu überleben, sowohl seelisch als auch körperlich.»
Kapplani berichtet aus seiner Jugend Erlebnisse von zivilem Widerstand unter der Maske des folgsamen Untertanen, Episoden, die gelegentlich zum Schmunzeln oder gar Lachen reizen, ein Spiegel des Humors der Unterdrückten. 1991 wurde der Widerstand der Bevölkerung offenkundig; der damals 24 Jahre alte Kapplani beteiligte sich daran, musste sich in der Folge vor der Polizei verstecken und floh nach Griechenland, wo er auch blieb, als wenig später das Regime zusammenbrach und die Opposition bei den ersten freien Wahlen gewann. Inzwischen hatte er sich trotz Ablehnung als Fremder in Griechenland eingewöhnt, wo ihm eine Tellerwäscherkarriere vom Hilfsarbeiter bis zur Promotion an der Universität in Athen gelang. Danach unterrichte er an der Uni, schrieb für eine griechische Zeitung und begann, auf Griechisch zu publizieren.
Der Autor erzählt parallel auf zwei Ebenen, einmal das, was mit ihm geschehen ist, immer wieder unterbrochen von Passagen, die sich wie Erklärungen für ein interessiertes Publikum lesen, im Kern aber Erklärungen an sich selber sind, Überlegungen, Zurechtlegungen, Widerlegungen, und hier tun sich die Abgründe des Seins aus Emigrant auf. «Die Reichen haben normalerweise kein Problem mit dir. Gefürchtet wirst du eher von Menschen, die sehr viel fernsehen und wenig lesen, die ihre Kinder auf die gleiche Schule schicken wie du, die in der gleichen Gegend wohnen wie du, die schon in aller Herrgottsfrühe in der gleichen Schlange bei der Krankenkasse stehen wie du.» Und dann die «Bleibeneurose»: «Du hast immer gesagt: “Sobald ich genug Geld zusammen habe, gehe ich zurück in meine Heimat”. (…) Obwohl du gewöhnlich dort bleibst, wohin du ursprünglich eingewandert bist, wirst du auf ewig ein Flüchtling sein. (…) Der Migrant ähnelt einem Baum, dessen Zweige sich nach dem Land ausstrecken, aus dem er gekommen ist, während sich seine Wurzeln immer tiefer in das Land eingraben, in dem er nun lebt.» Und schliesslich die Erkenntnis: «Dein Kind spricht nicht gebrochen Griechisch. (…) Du hast deine Wunden geleckt wie ein geprügelter Hund, wenn du abgelehnt wurdest. (…) Dein Kind fühlt sich nicht fremd. Für dein Kind gibt es keine andere Heimat.»
Doch: «Als die griechischen Autoritäten dir nach 24 Jahren und vielen Verdiensten Inland die griechische Staatsangehörigkeit verweigert haben, welche waren deine Reaktionen? Sicherlich war es ein Schlag in den Morgen eine brutale ich mach eine bodenlose Enttäuschung?» Schliesslich wandert Kapplani ein zweites Mal aus, in die USA, wo er noch Stationen als Fellow an der Harvard Universität und als Dozent am Emerson College in Boston nun in Chicago eine Professur für albanische Sprache und Kultur innehat. Dass dieser lange Weg ihm enorm viel Hartnäckigkeit und Energie und Selbstvertrauen abgefordert hat, kann ich mir vorstellen; beim Lesen fragte ich mich immer wieder: Wie machen das denn andere, wie hätte ich das gemacht? Vermutlich ist die Widerständigkeit entscheidend, die einer in jungen Jahren an Beispielen und an sich selber erlebt, samt dem unstillbaren Wunsch, erniedrigende Umstände für immer hinter sich zu lassen.
Gazmend Kapllani: «Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen». 175 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen. Direkt beim Verlag Edition Converso, Bad Herrenalb, 2020. Erste deutsche Ausgabe, übersetzt von Nina Bungarten aus dem 2006 erschienen griechischen Original. ISBN 978-3-9819763-5-9