Vom «Schweizer Zappa» zum Rondom-Künstler

Beim Lesen der «musikalischen Biografie» über den Appenzeller Künstler Steff Signer durfte ich eine hochinteressante Ära nacherleben, die ich in dieser speziellen Ausprägung kaum wahrgenommen hatte. Zwar hab ich ich einen Teil jener Zeit in der selben Region verbracht und bin kaum älter als der Protagonist und sein Schulfreund und Biograf Hanspeter Spörri, den ich damals als Journalist aus meiner Öko-Parallelwelt in meinem St. Galler Hauptquartier kennengelernt hatte, ohne auch nur zu ahnen, dass ich so eine Verbindung zu «Infra Steff» hätte bekommen können, zu einem Musiker und einer Szene, von denen nicht viel mehr als den Namen und einen gewissen Ruf mitbekommen hatte. Schande auf mein Haupt! Als ich Mitte der Achtzigerjahre nach Trogen und später nach St. Gallen gezogen war, war die wilde Zeit der wechselnden Bands um Steff Signer allerdings schon fast vorbei; damals begann seine Phase als Komponist, von der ich noch weniger Ahnung hatte.

Bis ich im Sommer 2024 auf die Ankündigung dieses Buches stiess. Dass Hanspeter Spörri der Autor sei, hat mich überrascht, weil er mir nicht als Kulturjournalist bekannt gewesen war. Zugleich war ich auf diese Biografie sehr gespannt, weil ich Spörris Arbeit als Journalist immer sehr geschätzt habe. Was mich eine Woche nach meiner Bestellung aus dem Appenzellerland erreichte, war ein ungewohnt schweres und ungewohnt schön und sorgfältig gestaltetes Buch, das gleich zuoberst auf dem Lesestapel neben meinem Bett landete; selten hat ein Buch so unverfroren das Anciennitätsprinzip missachtet.

Eigensinniger Bandleader, Komponist, Autor und Ilustrator

Ich las mit Erstaunen von Auftritten von Infra Steff & Co, die ich ein paarmal haarscharf verpasst hatte, obwohl ich musikalisch ähnlich orientiert war. Es war für mich – ich lebte damals in Zürich und Winterthur – spannend zu lesen, was sich nicht so fern von mir zu entwickeln begonnen hatte,  aus ersten Anfängen an der Kantonsschule in Trogen bis zu nationaler Bekanntheit von Steff und seinen wechselnden Mitmusikern, ja bis zum Ruf als Frank Zappa der Schweiz. Sehr spannend aber vor allem die Person und die Lebensgeschichte von Signer, zu deren Nacherzählung er selber aus seinem umfangreichen Archiv und in langen Gesprächen mit dem Autor beitrug. Ich lerne einen Menschen kennen, der in seinem Leben oft sprunghaft weiterging, Freunde dabei manchmal vor den Kopf stiess, weil er immer seinem eigenen «Grind» folgt, ein Eigenbrötler und zugleich einer, der die Zusammenarbeit sucht und dann doch wieder alleine schaffen muss. So gelingen ihm grosse Stücke zwischen Rock und E-Musik, nein, souverän alle Schubladen sprengend. Bis auch diese Phase endet, Signer sich zurückzieht, zurückziehen muss, vielleicht auch sich selber vor den Kopf stossend. «Trauer- und Schattenjahre» nennt Signer diese Zeit.

Der Weg vom Selfmade-Bandleader in den Sechziger- und Siebzigerjahren zum Komponisten erscheint bei dieser Persönlichkeit folgerichtig, bis hin zu einer tiefen psychischen Krise mit zehnjähriger Schaffenspause von 1993 bis 2003. Danach taucht Signer wieder an die Oberfläche mit ganz neuen Kreationen, mit denen er sich stark in seiner Heimat verwurzelt: «Dai, woni herchomm, oss em tüüfschte Henderland, oss de Highmatt obenabe hönne linggs…» Er komponiert und spielt Appenzeller Musik mit ortsfremden Elementen und Instrumenten. Und er schreibt und malt schalkhaft-ernste Miniaturen um letzte Fragen von Leben und Tod, aufgeworfen in der Enge und diese zugleich überspringend, die mich sehr berühren; ich denke spontan an Pau Nizons «Diskurs in der Enge», der jener etwas vor unserer Zeit nach Paris entfloh, während einer wie Signer eigensinnig genau da bleibt, wo’s eng ist und verchnorzt, als wolle er oms Verregge zeigen, was hier möglich ist. Dabei hätte er, der weltgewandt-eigensinnige Rundum-Künstler mit Beziehungen in die halbe Welt, es doch leicht haben müssen, denkt man, sich anderswo niederzulassen als ausgerechnet in diesem kleinen, trotz Reformation, Moderne, Freisinn und wirtschaftlichem Fortschritt noch immer bäurisch kulturell geprägten kleinen Halbkanton, eingeklemmt zwischen Alpstein und Bodensee. Signer schöpft in dieser Landschaft, das wird deutlich; er nahm auf, was in den USA gespielt wurde, und wurzelte es hier, und im Alter übernimmt formal das Hiesige die Führung. Internationales Renommée hätte er sich verdient als Musiker und Komponist; es schien ihn in seinem Schaffen nie zu kümmern. 

Ein Glücksfall

Das Buch und die Personen und Umstände, die es möglich gemacht haben, sind ein Glücksfall, der kulturell und historisch nicht hoch genug geschätzt werden kann. Ein Protagonist, der sein Schaffen nicht nur laufend archiviert hat, sondern dieses Archiv aufarbeiten hilft. Eine Kantonsbibliothek, die «25 Bananenschachteln Gemischtes» als «multimedialen Vorlass» aufnimmt, aufarbeitet und online zur Verfügung stellt. Ein Autor, der Lust, Zeit und Akribie mitbringt, die Lebens- und Schaffensgeschichte eines Jugendfreunds zu recherchieren und uns in spannender Form vorzustellen, mit einem Einblick in das vielfältige und reichhaltige Archiv in Text, Bild und Ton – ja, ein tönendes Buch sozusagen, das viele der erwähnten Stücke über QR-Codes direkt mit der Konserve auf der Memobase des Vereins Memoriav verbindet, der das audiovisuelle Erbe der Schweiz auf seinem Portal zugänglich macht. Die Codes nehmen sich typografisch wie hübsche Verzierungen am Kopf mancher Seiten aus und erinnern in einer profanen Welt fast schon ein wenig an die aufwendig gestalteten Initialen in alten mönchischen Handschriften, die dem Volk verschlossen blieben. Verschlossen sind die Codes vermutlich auch für einen Teil des heutigen Publikums, die ohne Klugtöner (smart phones) leben oder sich aus verschiedenen Gründen gegen die Nutzung von QR-Codes entschieden haben.

Das ist das Einzige, was mich bei vergnügter und nachdenklicher Lektüre ein wenig gestört hat. Heidi Eisenhut von der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden wies mich dann freundlich auf die Buchseiten 395 bis 397 hin, die ich übersehen hatte: Hier finden sich alle Links zu den Musikstücken; es handelt sich dabei um ark-IDs, ein Standard für Archive, mit dem man dafür sorgt, dass die Links «ewig» funktionieren, jedenfalls solange es Internet gibt. Vielleicht wird das Publikum bei einer weiteren Auflage, die ich diesem Buch sehr wünsche, im Zusammenhang mit den QR-Codes speziell auf diese Link-Seiten hingewiesen. Viel Freude beim Lauschen!

Hanspeter Spörri: «Steff Signer. Eine musikalische Biografie. Ein Stück Schweizer Rock-, Pop- und Highmatt-Geschichte». 400 Seiten, gebunden. Appenzeller Verlag, Schwellbrunn 2024. ISBN 978-3-85882-888-0

Eine Antwort hinterlassen