Lieber Robert
Dein längerer freiwilliger Aufenthalt in Brüssel hat uns nicht nur Deinen essayistischen «Europäischen Landboten» beschert, sondern nun auch einen wunderbaren Roman. In «Die Hauptstadt» kreuzen sich die Wege verschiedener älterer Herren, die in Brüssel was zu tun haben und in ihren Schicksalen miteinander verknüpft sind, ohne voneinander zu wissen. Noch gar ahnen sie, was gleichzeitig in der Europäischen Kommission an Plänen zur Feier des Jubiläums eben dieser Institution entworfen wird.
Kunstvoll und sehr spannend verwebst Du diese Fäden zu einem Bild dessen, was mit der Einigung Europas gemeint war, als man sich nach 1945 Nie wieder! schwor. Dem stellst Du ein Panoptikum persönlicher wie nationaler Eitelkeiten und Ambitionen innerhalb der Kommission und ihres Umfelds entgegen, das beim Lesen belustigt und zugleich weh tut. Hehres europäisches Engagement einzelner junger EU-Beamter stösst sich an der Unfertigkeit der Idee eines Europa, das seine nationalistischen Wurzeln überwinden wollte. Und derweil stolpern die alten Männer weiter dem Ende ihrer Leben entgegen, von denen jedes ganz anders verlaufen wäre in einem Europa, dessen Länder sich nicht bis auf Blut und Knochen bekriegt hätten.
Dein Roman ist ein eindrücklicher Appell dafür, das damalige Versprechen endlich in die Tat umzusetzen, das dem allmählichen Zusammenwachsen der europäischen Länder zugrunde liegt. Ein Appell, sich aufzulehnen gegen die Aussichtslosigkeit des Bestrebens für eine gemeinsame Zukunft in einer Gesellschaft, die wortwörtlich die Sau durchs Dorf treibt und nicht wahrnimmt, wie das Dorf zusammenbricht.
«Die Hauptstadt» endet wenig erbaulich und zeichnet so die Situation, auf die hin wir in der «Alten Welt» schlittern. Mutige Entwürfe tun not, und einige Deiner Protagonisten wagen sie, bleiben aber im Überbau befangen und scheitern drum. Ich wünschte mir eine Fortsetzung aus Deiner Feder, bei der Entwürfe die Menschen bewegen und darum gelingen.
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Wir sind uns in Bezug auf die EU nicht in allem einig. Beide lehnen wir Nationalstaaten als Basis für eine europäischen Einigung ab und kritisieren, dass sie weiterhin via Ministerrat und Entsendung von EU-Kommissaren bestimmend Einfluss auf die EU nehmen. Beide sehen wir nicht erst seit den jüngsten Ereignissen in einem «Europa der Regionen» einen möglichen Pfad zur Auflösung des Nationalismus. Doch was garantiert dafür, dass Regionen als Fundament der Europäischen Union mehr taugen als Nationen? Die aktuellen Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Regionen sind durchaus nicht frei von ideologischen Elementen, die auch dem Nationalismus eignen.
Wo sind wir Menschen denn zuhause, wenn nicht vor allem am Ort, an dem wir schon seit einer Weile leben? Ein Europa freier Menschen müsste ein Europa grösstmöglich autonomer Gemeinden sein, dem Prinzip der Subsidiarität folgend: Was wir auf lokaler Ebene regeln können, soll nicht fern von uns bestimmt werden. Die EU-Mitgliedsstaaten, welche Gemeindeautonomie in der Regel bestenfalls als gnädiges Zugeständnis seitens der Zentralregierung kennen, würden so schrittweise zwecklos und unnötig.
Eine EU, die sich darauf beschränkt, nebst Grundrechten die Rahmenbedingungen zu garantieren, innerhalb welcher sich Gemeinden entwickeln und aus freiem Entschluss zu Verbänden zusammenschliessen können, wäre nicht mehr das bequeme Feindbild so vieler Bürger.
Zu reden wär bei den Rahmenbedingungen auch darüber, wie die Bürger/innen ihre Meinung auf ferneren Ebenen wirklich vertreten wissen könnten. Mit teuren Wahlkämpfen und endlos wiedergewählten Sesselklebern hat das ja nicht funktioniert. Und bei den Grundrechten müsste überlegt werden, auf welche Weise die EU die Subsistenz aller Menschen in Europa sichern könnte. Lohnarbeit ist ja weltgeschichtlich gesehen eine Ausnahme und wird zum Auslaufmodell.
Wär das ein Plot?
Herzlich
Billo
Robert Menasse: Die Hauptstadt. Roman. Suhrkamp, Berlin, 2017. 449 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-518-42758-3