Was der britische Diplomat, Segler und Schmetterlingsforscher in diesem Buch vorlegt, ist nichts anderes als die Geschichte der Navigationstechnik und der Kartierung naher und ferner Küsten in Form eines spannenden Romans. Kein Buch für jedermann; aber eine bereichernde Lektüre selbst für Menschen wie mich, die wenig von Mathematik, Trigonometrie, Astronomie und Technik verstehen.
Wer sich aus der bequemen Selbstverständlichkeit der satellitengesteuerten Ortsbestimmung (GPS) zurückversetzen möchte an Zeiten, in denen es viel schwieriger war, herauszufinden, wo genau man sich grad befinde, findet in Barrie einen wunderbaren Führer. Es ist für uns heute fast unvorstellbar, wie Seefahrer einst ohne oder mit höchst ungenauen Karten und ohne andere Orientierungshilfe als Sonne, Mond und Sterne einfach die Anker lichten und auf die andere Seite des Erdballs segeln konnten – und dort tatsächlich ankamen, falls sie nicht unterwegs Schiffbruch oder Tod durch Krankheit erlitten. Wahre Abenteurer des Entdeckens. Manche derartige Mission wurde von Königen und Regierungen nicht in Auftrag gegeben, um ferne Völker und deren Bodenschätze zu erobern, sondern schlicht zur Vermessung der Welt.
Es muss eine unvorstellbare Neugier geherrscht haben im Europa nach Ende des Mittelalters und der Idee der Erde als Scheibe und als Zentrum der Welt, die Oberfläche des Planeten genau zu erfassen. Die eigentlichen Helden dieser Zeit sind nicht die Eroberer, sondern die Vermesser; sie schufen erst die Grundlage des Eroberns, Missionierens und Ausbeutens. Kolonialismus wäre undenkbar ohne genaue Kenntnis von Distanzen und der Lage von Küsten, Buchten zum Landen, Orten zum Leben. Auf ihre Weise waren diese Seefahrer und Navigatoren auch Eroberer, die ihr Leben riskierten, um Wissen zu schaffen; nicht wenige von ihnen ertranken jämmerlich fern jeder Zivilisation in noch unbekannten Gewässern voller Klippen, infernalischer Winde und riesiger Wellen.
Der israelische Historiker Harari hat in seiner «Kurzen Geschichte der Menschheit» deutlich gemacht, was damals eigentlich geschehen ist:
«Mit der Entdeckung Amerikas lernten die Europäer, neuen Beobachtungen grösseres Gewicht beizumessen als alten Überlieferungen (…) Bald lernten nicht nur die Kartographen, sondern auch europäische Wissenschaftler aller andern Disziplinen, Karten mit weissen Flecken zu zeichnen. Sie gaben zu, dass ihre Theorien alles andere als vollständig waren, und dass es eine Menge Dinge gab, von denen sie nicht die geringste Ahnung hatten. Die weissen Flecken auf der Landkarte übten eine magische Anziehungskraft auf die Europäer aus, und sie machten sich daran, einen nach dem andern auszufüllen.»
Wir begegnen in Barries Buch Personen und Geschichten, die wir dem Namen nach auch schon gehört haben: Meuterei auf der Bounty, Captain Cook, selbst Charles Darwin taucht als junger Forschungsreisender auf – es war damals bei jungen Männern aus besserem Haus geradezu Mode, auf einer dieser Vermessungsmissionen dabei zu sein, als Maat, Zeichner, Botaniker, Volkskundler. Die meisten Personen in diesem Roman sind mir kaum bekannt gewesen, viele nicht einmal dem Namen nach. Sie alle haben, Generation nach Generation, dazu beigetragen zum Bild, das wir heute fraglos von unserem Planeten haben. Alle möglichen Instrumente und Techniken haben sie im Lauf der Zeit erfunden, um noch genauer zu bestimmen, auf welcher geografischen Breite und Länge sich ihr Schiff befinde, oder die nächste Küste, oder gefährliche Riffe in der Nähe. Der Sextant ist nur eines dieser Instrumente, allerdings das präziseste und in der Bedienung anspruchsvollste. Der Autor hat die Arbeit mit dem Sextant als junger Segler von einem pensionierten über Marinekpapitän erlernt und übte unter dessen Anleitung auf seiner ersten Atlantiküberquerung, die dem Roman die Rahmengeschichte gibt.
Nur am Rand streift Barrie das sagenumwobene Navigationsgeschick der Inselvölker in der Südsee – die von ihm vorgestellten europäischen Seefahrer hatten sich selbst bei direktem Kontakt offenbar nicht besonders dafür interessiert; erst in neuerer Zeit begann sich Interesse dafür zu regen, wohl gerade noch rechtzeitig, bevor das alte Wissen ganz verschwindet. Ich würde mir ein weiteres Buch von Barrie hierzu wünschen.
Barrie ist kein Gegner der bequemen GPS-Orientierung; er macht in seinem Nachwort allerdings deutlich, dass es klüger sei, mit Sextant und Astronomie vertraut zu bleiben, zum einen als Sicherheit, falls GPS und Computer einmal ausfallen oder manipuliert werden sollten, zum andern und vor allem aber, um den direkten Kontakt mit der Natur nicht zu verlieren – und damit die Ehrfurcht vor deren kühlen Grösse, in der wir als Individuum unbedeutend sind.
David Barrie: Sextant. Die Vermessung der Meere. 323 S., plus umfangreiche Bibliographie und Fussnoten. Malik/National Geographie, 2017. Taschenbuch. ISBN 978-3-49240612-3