Peter Beutler schreibt Politkrimis; aber keine erfundenen. Er recherchiert wie ein Journalist historisch belegte Unfälle und Verbrechen in der Schweiz, die bisher ungeklärt geblieben sind. Dort, wo noch immer Geheimnisse die Geschehnisse verbergen, wird Beutler zum brillanten Romanautor. Er interpoliert zwischen den Scherben der aktenkundigen Fakten und bündelt das Wissen zu einer Geschichte, wie es in Wahrheit gewesen sein könnte. Der rote Faden, auf dem er dabei über die Abgründe balanciert, ist aus den feinen Fasern des cui bono geflochten: Wem mag es genützt haben? Den Mächtigen. Und offenbar sticht er damit ins Wespennest gewaltsam versteckter Wahrheiten, derart, dass er wie erst kürzlich Morddrohungen erhält.
Geschichten erfinden ist, wie schon Yuval Harari sagte, eine zutiefst menschliche Wesensart, und in der Regel ist das ungefährlich – ausser man erfindet das, was unbedingt verschwiegen bleiben soll.
Zwei von Beutlers Büchern will ich hier kurz vorstellen. Ich habe sie mit wachsendem Interesse verschlungen, weil sie Ereignisse betreffen, die ich als lesender Zeitzeuge mitverfolgt hatte.
In «Der Lucens-GAU» arbeitet Beutler den «grössten anzunehmenden Unfall» (GAU) in einem Schweizer Atomkraftwerk auf, ein Versuchskraftwerk in einer Felskaverne beim westschweizerischen Ort Lucens (deutsch: Losingen), das im Jahr 1969 sich nach nur einjährigem Betrieb durch eine Kernschmelze derart zerstörte, dass nichts anderes zu tun blieb, als es im Wortsinn dicht zu machen. So dicht jedenfalls, dass man besorgten Bürgern glauben machen konnte, da trete nie mehr Radioaktivität aus; die sei ja, so die Verantwortlichen, auch beim und nach dem GAU nie ausgetreten, jedenfalls nicht in besorgniserregendem Umfang…
Wenn nicht die physikalischen Folgen, so hätten doch die politischen Hintergründe zu grosser Besorgnis Anlass geben müssen. Das AKW Lucens war, wie Beutler deutlich macht, nicht anderes als der Beton gewordene Wille eines helvetischen militärisch-industriellen Komplexes mit Ablegern bis weit rechts aussen, der um jeden Preis in den Besitz einer vom Ausland unabhängigen Maschine gelangen wollte, welche Plutonium für eine eigene Atomwaffe liefern würde. Beutler stellt die politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung über diese Frage in der Gestalt zweier junger Forscherkollegen dar, die sich im Verlauf der Entwicklung des Reaktors immer mehr entzweien; der eine verbündet sich mit Politikern und Militärs, während der andere sich von Anfang an einzig für die friedliche Nutzung der Atomenergie engagiert hatte und zunehmend gegen die militärischen Absichten und gegen die Inbetriebnahme des Reaktors opponierte, dessen Sicherheit er als fraglich beurteilte. Beutlers Geschichte endet (oder beginnt) damit, dass der Kritiker, von seinem Kontrahenten in den Stollen geschickt, mutmasslich beim GAU ums Leben kommt. Die komplexe Spurensuche auf dem Weg zu diesem Schluss ist faszinierend.
In «Hauptwache Urania» greift Beutler ein Ereignis auf, das ab 1967 die Zürcher Öffentlichkeit bewegte. Die Hauptperson war unter dem Namen «Meier 19» in aller Munde: Kurt Meier, Detektivwachtmeister der Zürcher Stadtpolizei. Beutler bezeichnet sein Buch als Hommage an diesen Mann, weil er «gegen Behördenwillkür, Günstlingswirtschaft und Amtsmissbrauch gekämpft» hat und weil «die Politik, die Justiz die die Polizei ihm das heimgezahlt und in seiner Existenz beraubt» haben. Ein klassischer Whistleblower-Fall. Meier hatte Fälle zur Anzeige gebracht, in welchen hochrangige Persönlichkeiten trotz erwiesener Zuwiderhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz nicht gebüsst worden war. Vor allem aber machte Meiers Vorwurf Schlagzeilen, der damalige Kripo-Chef Walter Hubatka wisse etwas über den Diebstahl, bei dem im Jahr 1963 auf der Hautwache Lohntüten mit insgesamt 80’000 Franken entwendet worden waren; entweder decke Hubatka die Täter oder gehöre selber zu ihnen.
Meier wurde 1967 wegen Amtsgeheimnisverletzung aus dem Polizeidienst entlassen. Das Bezirksgericht attestierte Meier ein halbes Jahr später zwar «achtenswerte Motive» und verknurrte ihn statt zu Gefängnis zu einer kleinen Busse; gleichzeitig hielt das Gericht aber fest, er hätte seine Beschwerden verwaltungsintern vorbringen müssen, weshalb der Tatbestand der Amtsgeheimnisverletzung gegeben sei. Das von Meier angerufene Bundesgericht bestätigte 1968 dieses Urteil. Eine parallel tagende Parlamentarische Untersuchungskommission war 1967 zu ähnlichen Schlüssen und stellte fest, es habe sich lediglich um «Einzelfälle» gehandelt. Gegen den entschlossenen Willen der Aufsichtsorgane, den Unregelmässigkeiten auf den Grund zu gehen, blieb Meier nichts anderes übrig, als sich für die Wahrheit und seine Ehre selber zu wehren. Die Fortschrittliche Studentenschaft Zürich unterstützte ihn dabei mit Flugblättern, in welchen Meier die Fakten ausbreitete, und mit einer Demo gegen korrupte Polizeichefs.
Wer die Lohntüten aus der Hauptwache geklaut hat, ist bis heute ungeklärt, besser gesagt: geheim. Beutler legt in seinem spannenden Roman eine Lösung des Falls nahe.
Nun, war es so gewesen in Lucens, auf der Zürcher Hauptwache? Zumindest sind Beutlers Erklärungsversuche so plausibel, dass die Hüter der Geheimnisse nicht mehr ruhig schlafen dürfen, bis alles ans Licht kommt.
Peter Beutler: «Hauptwache Urania», Kriminalroman. Emons Verlag, Köln, 2017, 335 S., Taschenbuch, ISBN 978-3-7408-0164-9
derselbe: «Der Lucens-GAU», Kriminalroman. Emons Verlag, Köln, 2018, 368 S., Taschenbuch, ISBN 978-3-7408-0432-9