Die Infantilisierung der Kommunikation — — —       #SchauHier!  #SchauHier!  #SchauHier!

23. Oktober 2024

Die Menschen haben keine Zeit, Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut, die Konkurrenz darum ist enorm – also sag es kurz!

Doch weil das Schreiben von einleuchtenden Slogans und lange nachwirkenden Aphorismen eine Kunst ist, die wenige beherrschen, gerät die Verkürzung meist zur Verflachung: Der Text bleibt an der Oberfläche, bewirtschaftet einen isolierten Aufreger, leuchtet keine Zusammenhänge aus.

In den sozialen (?) Medien

Hingerotzter Content ohne konkrete Inhalte, nach dem Gesetz der grössten Kurzaufmerksamkeit grafisch aufgemotzt.

Bilder als reine Hingucker, nicht als Boten des Inhalts, die das Auge und dann den Geist festhalten und zu sich verführen.

Layouts in Print und online seriell, auf Smartphones zugeschnitten, bar jeder Diversität und Gleichzeitigkeit – beides würde nur stören beim Zappen von einem Content-Häppchen zum nächsten, um ja nichts zu verpassen…

Und Postings in Dauerserie, hier ein Link, dort ein Bild, Angelesenes und Angeschautes wird sozusagen wortlos aufs eigene Profil geklatscht: da, bitte sehr! Bitte was? Gibt es vielleicht bitte eine kurze Zusammenfassung samt Begründung, warum ich den verlinkten Artikel lesen soll oder warum du findest, das Bild sollte mir was sagen; und was sagt es dir?

In den grossen (?) Medien

Infantilisierung auch im bislang seriösen Kulturprogramm von Radio SRF, etwa in der Sendung Kontext, ja sogar im Wissenschaftsmagazin: pseudodialogisch, pseudopädagogisch, geschwätzig und voller störender Töne, Pseudointerviews, in welchen ein Redaktionsmitglied ein zweites über ein Thema befragt, in welches sich das erste vertieft hat – eine Art Verschnitt zwischen Smalltalk und Making of, billige Sendeminutenschinderei im Stil einstiger Zeilenschinder zweitklassiger Presseorgane. Wissenschaft und Kultur lassen sich doch nicht mit einem Geplapper über Wissenshäppchen vermitteln, sondern in einem Prozess des Verstehens und weiteren Fragens, und das würde ein Feature weit besser leisten als ein redaktionsinternes Geplauder.

Im medialen Auftritt von NGOs

Selbst für ein Anliegen kämpfende NGOs bedienen sich heute der Kommunikation in Häppchen: eine Schlagzeile, ein Bild, zwei Buttons: hier unterschreiben!, hier spenden! Nicht einmal mehr NGOs mögen ihren Anhängern zumuten, längere Texte zu lesen – warum eigentlich nicht? Wer sagt denn, dass sie sich nicht in eine Reportage oder Kurzgeschichte vertiefen möchten, um besser zu verstehen? Zum Beispiel, dass Phänomene wie «Klimakrise», «Artensterben», «Armut», «Krieg» sich nicht zuletzt deswegen so erschreckend ausbreiten, weil kaum jemand sich Zeit nimmt, sich mit den Zusammenhängen und Hintergründen auseinanderzusetzen. Klick-Users und Spontanspender mögen eine Kampagne befeuern, sie sind aber kaum das Fundament der nachhaltigen Veränderung, um die es im Kern gehen müsste.

Nur noch banale Antworten

Ein Aufmerksamkeit erregender Titel, ein auf den Punkt geschriebener Anriss, ein neugierig machendes Bild mit einer treffenden Bildlegende müssten nicht für sich alleine stehen bleiben, sondern könnten, geschickt gemacht, in den langen Text hineinführen. Einst war das gutes Handwerk; es hätte noch heute goldenen Boden. Ansonsten gilt Roger de Wecks professionelle Warnung:

«An reisserische Titel hat man sich bereits gewöhnt. Ein weiteres Phänomen ist, dass der Vorspann zu Beginn von Artikeln nicht mehr zusammenfasst, worum es geht, sondern eine aufsehen­erregende Frage aufwirft, um das Publikum zur Lektüre zu locken. Geübte Leserinnen und Leser überfliegen den Text, bis sie im sechsten oder siebten Absatz auf die eigentlichen News stossen, und dann steigen sie aus – nicht selten enttäuscht von der banalen Antwort auf die vermeintlich spektakuläre Frage. (…) Wir werden Zeugen eines Struktur­wandels der veröffentlichten Meinung: Die Themen­auswahl und -präsentation ist einzig auf die Nachfrage ausgerichtet anhand des von Minute zu Minute erfassten Verhaltens der User. Das Angebot ist nachrangig: Hauptsache, die Nachfrage stimmt.»

Albert Rösti und Markus Ritter entführt!

15. September 2024

Eine Moritat rund um die Biodiversität mit wahrem Hintergrund [1]


Irgendwer wird dereinst nur noch Rösti zu essen kriegen – entweder jene, die sie angerichtet haben, oder wahrscheinlicher all jene, die das zuliessen.

1 Die Bombe platzt

«Das Basiskollektiv biodiv hat Albert Rösti, Bundesrat, und Markus Ritter, Bauernverbandspräsident, entführt und wegen wiederholter bandenmässiger Irreführung der Schweizer Bevölkerung verurteilt. Die beiden Promotoren einer Lügenkampagne gegen den wissenschaftlich belegten Verlust der Biodiversität bleiben in Gefangenschaft, bis der Bundesrat beschliesst, die Volksabstimmung vom 22. September über die Volksinitiative «Für die Zukunft unserer Natur und Landschaft» (Biodiversitätsinitiative) auszusetzen und im kommenden Jahr mit einem erläuternden Text des Forums Biodiversität der Schweizerischen Akademie der Natur­wissenschaften neu anzusetzen. Die Kommunikation mit dem Basiskollektiv biodiv ist ausschliesslich über swissinfo.ch der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft möglich.»

Diese knappe Mitteilung erreichte die nationale Nachrichtenagentur Keystone-SDA auf einem mit uralter Schreibmaschine getippten Brief per Post am Donnerstagmittag und schlug in den Medien wie eine Bombe ein, nachdem bereits in den Morgennachrichten das mysteriöse Verschwinden von Rösti bekanntgegeben worden war. Polizeiliche Ermittlungen über den Aufgabeort des Briefes und sachdienliche Spuren auf dem Papier und im Maschinenschriftbild blieben ergebnislos. Der Poststempel war verzogen und bis auf die Angabe des Kantons «(SG)» unleserlich. Papier und Couvert waren Massenware und offensichtlich nur mit Handschuhen berührt und mit einem Feuchttuch gereinigt worden. Und die Maschine musste vor Jahrzehnten hergestellt, aber sehr selten benutzt worden sein.

Radio SRF schaltete nach dem Mittagsnachrichten eine Sondersendung ein, an welcher der Bundespräsident und die Präsidenten der im Parlament vertretenen Parteien Stellung nahmen. Alle waren sich in der kategorischen Ablehnung der politischen Führung einig, die Vertreter der Grünen und Sozialdemokraten liessen dabei allerdings durchblicken, dass eine gewisse Mitverantwortung der beiden Entführten wegen ihres seit langem betriebenen rücksichtslosen Kurses nicht ganz von der Hand zu weisen sei, was die Vertreter von der Rechtsaussenvolkspartei und der Freisinnigen scharf kritisierten. Die Forderung nach Verschiebung der Volksabstimmung aber wurde von der Elefantenrunde einhellig zurückgewiesen; erpressen lasse man sich selbstverständlich nicht!

Die Abendnachrichten von Radio und Fernsehen informierten ausführlich über den unerhörten Vorfall und über die bis dahin erfolglosen Bemühungen der Polizei, eine Spur der Entführer und zum Versteck der beiden Politiker zu finden. Der Schweizer Bauernverband versprach eine Belohnung von hunderttausend Franken für zielführende Hinweise, die Schweizerische Volkspartei verdoppelte die Prämie. Sprecher von Bundesanwalt und Bundespolizei gaben sich entschlossen, den Fall innert Kürze zu lösen. Am Freitagmorgen waren die ersten Seiten der Tageszeitungen ganz der Entführung, dem Wirken der beiden Politiker, dem wahnwitzigen Anliegen der kriminellen Aktivisten und der fieberhaften Arbeit der Polizei gewidmet. Auf den sozialen Medien waren Meinungen aller Art zu lesen, von «Hängt die vom Ausland gesteuerten biodiv-Verbrecher!» bis «Rösti und Ritter sollen schmoren, bis sie ihre Lügen gestehen!» Ausländische Medien berichteten ausführlich über das Ereignis, in einer Mischung aus Zurückhaltung und Erstaunen.

2 Offizielle Schweiz und Entführer bleiben hart

Am Freitagabend verbreiteten Radio und Fernsehen den Beschluss der Landesregierung, auf die Forderung der Entführer nicht einzugehen und an der Volksabstimmung wie geplant festzuhalten. Der aktuelle Stand der polizeilichen Ermittlungen beschränkt sich auf die Erkenntnis, dass die beiden Politiker sich nachmittags in einem Café in der Nähe des Bundeshauses zu zweit treffen wollten und vor dem Lokal von nicht identifizierten Personen in einen Lieferwagen ohne auffällige Merkmale gezerrt und Statt auswärts gefahren wurden. Ein erster Kommentar geisselt die Verlosung der politischen Sitten in der Schweiz, was nun wohl dazu führen werde, dass sich Bundesräte und hohe Politiker nur noch unter Polizeischutz in der Öffentlichkeit bewegen könnten. Vertreter verschiedener Parteien und Organisationen, darunter auch die Gattinnen der beiden Politiker, appellierten an die Entführer, Rösti und Ritter unverzüglich freizulassen. Der Bundesanwalt stellte für diesen Fall Straffreiheit in Aussicht. In verschiedenen Kommentaren schimmerte die Hoffnung durch, bei der Entführung handele es sich lediglich um eine besonders dreiste Kampagne im Vorfeld der Abstimmung, um Aufmerksamkeit für die Anliegen der Initianten zu wecken; die beiden Politiker würden wohl bald wieder freigelassen. Am Samstag erhielten derartige Hoffnungen einen harten Dämpfer. Ein neuerliches Schreiben der Entführer an die Nachrichtenagentur hält kurz und bündig fest:

«Da der Bundesrat an der Volksabstimmung festhält, hat das Basiskomitee biodiv eine Verschärfung der Haftbedingungen beschlossen. Die Herren Rösti und Ritter erhalten ab heute nebst Wasser nichts weiter zu essen als Rösti aus Kartoffeln, Rapsöl und Salz. Sie bleiben so lange in unserer Obhut, bis sie ihre Lügen öffentlich eingestehen und von allen ihren Ämtern zurücktreten.»

Am Samstagnachmittag gibt es in Bern und einigen weiteren Städten erste spontane Kundgebungen von besorgten Bürgern, welche die klare Haltung der Behörden unterstützen und die Entführer zum Aufgeben aufrufen. In Sprechchören verbreitet sich zunehmend der von einem Werbebüro über Nacht entwickelte Slogan «Biodiversität ohne Kriminalität!». In einer Talkrunde nach der Tagesschau diskutieren die Politiker, Umweltschützer und Wissenschafter über die Entführung und deren Hintergründe. Eine Zoologin, ein Naturschützer und eine Klimaexpertin geraten dabei unter massiven Beschuss der übrigen Teilnehmer und der Sendeleitung, weil sie den Entführern – deren Tun sie unmissverständlich ablehnen – inhaltlich Recht geben. In der Folge tobt der Meinungskampf in Leserbriefen und auf sozialen Medien noch heftiger.

Die Polizei hofft nun immerhin, den Entführern auf die Spur zu kommen, indem sie nach einer lokalen Häufung des Einkaufs von Kartoffeln oder Fertigrösti sucht. Vergeblich; nach drei Tagen intensiver, landesweiter Recherche zeigt sich zwar, dass der Absatz von Beuteln mit Fertigrösti vor drei Monaten deutlich zugenommen hat, bis er vor zwei Wochen wieder zurückging, die Zunahme von insgesamt rund siebentausend Portionen verteilt sich aber gleichmässig auf alle Landesregionen und auf verschiedene Ladenketten und Marken. Offensichtlich handelt es sich bei den Entführern um hartgesottene Profis, die nichts dem Zufall überlassen. Einzige Anhaltspunkte für die weitere Suche sind ein inzwischen wahrscheinlich irgendwo entsorgter grauer Lieferwagen mit während des Anschlags verdeckten Kennzeichen und ein Versteck mit Trinkwasser, Wärmeenergie und genügend Raum für fünf bis sechs Menschen und deren Lebensmittelvorrat für mindestens ein Jahr. Da die Botschaften der Entführer mit dem rot-schwarzen Stern der Anarchosyndikalisten gezeichnet sind, beschliesst die Bundespolizei, die Suche zunächst auf abgelegene Täler und Höhen im Jura zu konzentrieren.

3 Allmähliches Erlahmen

Am darauf folgenden Montag trifft ein drittes Schreiben der Entführer bei der Nachrichtenagentur ein, und erneut enthält es keinerlei polizeilich verwertbaren Spuren. Die Botschaft ist kurz:

«Die Herren Rösti und Ritter sind physisch wohlauf. Sie dürfen Briefe von Angehörigen und Freunden empfangen und ihrerseits ohne Hinweise auf den Aufenthaltsort beantworten, sobald fachlich zuständige Wissenschafter des Forums Biodiversität der Schweizerischen Akademie der Natur­wissenschaften sich in den folgenden Medien ausführlich zur Lage der Biodiversität in der Schweiz äussern konnten (es folgt eine Liste von zwei Dutzend Zeitungen, Zeitschriften, Radio- und Fernsehstationen). Als ausführlich akzeptieren wird mindestens eine ganze Zeitungsseite, mindestens zwei Zeitschriftenseiten oder mindestens eine halbe Stunde Sendezeit. Das Angebot gilt, sobald alle genannten Medien ihre Aufgabe erfüllt und uns dokumentiert haben.»

Diesmal ist der Brief deutlich lesbar in Le Locle abgestempelt; auf Anfrage erfährt die Polizei jedoch, dass es sich um einen eingeworfenen Brief handelt, dessen Absender unbekannt ist. Innerhalb der Bundespolizei kommen Zweifel auf, ob die Hypothese Anarchisten und Jura überhaupt richtig sei oder ob nicht vielmehr die Entführer sich genau darüber lustig machten, indem sie mit Absicht nicht verhinderten, dass der Poststempel deutlich sichtbar sei. Zudem seien die Botschaften der Entführer völlig frei von einschlägigem Vokabular. Kurz, die Polizei tappt weiter im Dunkeln.

In akademischen Kreisen und in der Öffentlichkeit wird heftig darüber diskutiert, ob man auf diese Zumutung der Entführer eingehen dürfe. Einige renommierte und für ihre Unabhängigkeit bekannte Wissenschaftler setzen sich dafür ein, die Forderung zu erfüllen, zum einen aus humanitären Gründen, da doch berechtigte Hoffnung auf ein rationales Verhalten der Entführer bestehe, zum anderen aber auch, um die nun aufgeheizte Debatte zu versachlichen. Als erste bieten die Sendung Rundschau des Deutschschweizer Fernsehens, der Walliser Bote und die Sendung «1 Question 100 Réponses» von Radio Suisse Romande Raum für Beiträge von Biodiversitätsforschern. Innert einer Woche erklären sich alle genannten Medien bereit, Vertretern des Forums die geforderte Präsenz einzuräumen.

In den letzten Wochen vor der Volksabstimmung werden fast alle geforderten Beiträge publiziert; nur bei fünf Medien kann die Veröffentlichung erst nach der Abstimmung erfolgen. 50,4 Prozent der Stimmenden heissen die Biodiversitätsinitiative zwar gut, aber zwölf Kantone lehnen sie ab. Damit ist die Initiative gescheitert, doch das Thema bleibt in heftiger Diskussion, angetrieben von der Fortdauer der Entführung ohne neue Nachricht seit drei Wochen. Ende September sind endlich alle Beiträge veröffentlicht. Die Nachrichtenagentur erhält eine kurze Botschaft:

«Familien und Freunde der Herren Rösti und Ritter sind nun eingeladen, Briefe an sie zu senden, und zwar ausschliesslich an german@swissinfo.ch. Was die Redaktion hiervon veröffentlichen will, bleibt ihr überlassen. Die Antworten der Herren Rösti und Ritter werden wir an die Nachrichtenagentur senden.»

Der Poststempel auf diesem Brief ist verwischt, lediglich die erste Stelle der Postleitzahl ist lesbar und weist auf einen Aufgabeort in der Nordwestschweiz hin. Die Polizei hält sich gegenüber den zahlreicher und drängender werdenden Fragen der Öffentlichkeit bedeckt, sie hat keine Ahnung und keinen Plan, wie aus Insiderkreisen durchsickert. Dringliche Vorstösse im Bundesparlament verpuffen wirkungslos. Allmählich weicht das Interesse am Thema und an der Entführung einer leisen Ermüdung und leidet unter der Konkurrenz aktuellerer Ereignisse im In- und Ausland. Die Veröffentlichung von Briefen an Rösti und Ritter auf swissinfo.ch schafft nochmals Aufmerksamkeit, die aber rasch erlahmt, weil die Solidaritätsbekundungen sich wiederholen, als wären sie im Copy-Paste-Verfahren geschrieben worden. Auch die Tage später veröffentlichten Antworten der beiden Entführten können das Interesse nur kurz wieder entfachen; die offensichtlich zensierten Zeilen enthalten wenig Neues ausser der Beteuerung der Unschuld und der Klage darüber, dass es täglich dreimal heisse, diese Rösti werde gegessen, Punkt, und dabei handle es sich um die billigste, langweiligste Rösti aus dem Beutel. Bei Reklamation würden ihre Entführer nur höhnisch lachen: Das sei jetzt eben die Biodiversität à la Rösti und Ritter. Das zu hören sei noch schlimmer als das ewige Röstiessen.

Das Basiskollektiv biodiv hat den Antworten einen einzigen Satz hinzugefügt:

«Die beiden Herren befinden sind in körperlich guter Verfassung und bleiben bis zum öffentlich in Geständnis ihrer wiederholt und bandenmässig begangenen Irreführung der Schweizer Bevölkerung in unserer Obhut.»

 

4 Fast schon vergessen, doch dann…

Die Gefangenschaft von Rösti und Ritter dauert bereits über fünf Monate. In ihrer Hilflosigkeit klammert sich die Polizei an die Berechnung, dass der Röstivorrat der Entführer höchstens noch für zehn Monate reichen dürfte und dass nach Ablauf dieser Zeit neue Röstieinkäufe Spuren hinterlassen dürften würden. In älteren linken Kreisen werden Vergleiche mit dem Fall Aldo Moro angestellt, auch damals war die Polizei unfähig, das Versteck des Entführten zu finden.

Der Vergleich wird von vielen als unzulässig zurückgewiesen, da es sich bei Moro um einen Politiker von erstrangiger nationaler Bedeutung gehandelt habe, den seine eigene Partei nur zu gerne los geworden sei, um sich nicht mit den Kommunisten einigen zu müssen. Andere hingegen weisen darauf hin, dass auch im Bauernverband Stimmen laut würden, Ritter von seiner Funktion als Präsident wenigstens zu beurlauben, um wieder eine handlungsfähige Person an der Spitze zu haben. Ja, selbst bei der SVP gebe es hinter vorgehaltener Hand bereits Überlegungen, ob und wie Rösti im Bundesrat ersetzt werden könnte, falls die Entführung noch lange anhalte. Einzelne Scharfmacher sollen sogar schon dafür plädiert haben, die beiden Politiker rasch zu ersetzen, weil damit zu rechnen sei, dass sie eines Tages so mürbe seien, dass sie die Forderung nach einem Geständnis einfach erfüllen würden, um frei zu kommen; ein derartiges Geständnis wäre aber umso weniger gefährlich, je länger sie ihre Ämter schon los seien.

Neun Monate nach der Entführung spricht kaum mehr jemand darüber. Familien und Freunde der beiden Politiker setzen sich zwar vehement gegen das Vergessen ein, machen sich aber bei Politikern und Medien und sogar bei der Partei des einen und beim Verband des anderen zunehmend unbeliebt.

Weitere drei Monate später wählt der Bauernverband einen neuen Präsidenten und die Bundesversammlung einen neuen SVP-Bundesrat. Der Wechsel von Briefen an Rösti und Ritter und Antworten von ihnen ist schon fast ganz versiegt. Die Polizei hat längst andere Prioritäten und wird höchst ungern auf den Fall angesprochen. Dann plötzlich, fast zwei Jahre nach der Entführung erhält die Nachrichtenredaktion eine neue Botschaft vom Basiskollektiv biodiv, die wiederum so professionell ausgeführt wurde, dass sie nicht die geringste Spur preisgibt:

«Die Herren Rösti und Ritter haben gestern ein Geständnis abgelegt. Herr Rösti beschreibt auf seinem beiliegenden, zehnseitigen handgeschriebenen Brief im Detail, was er unternommen hat, um die Situation der Schweiz in Bezug auf Biodiversität, Klimaschutz, Umwelt und Verkehr positiv darzustellen und die effektiven Probleme zu verschleiern. Er führt in seinem Brief auch alle Personen und Organisationen auf, die ihm dabei geholfen haben oder die er entsprechend beeinflusst hat. Herr Ritter beschreibt auf seinem beiliegenden siebenseitigen Brief im Detail, wie er den Bauernverband zu einem Partner der Industrieverbände umfunktioniert hat und wie er hierfür die Situation und das Verhalten der Schweizer Landwirtschaft beschönigt hat. Er zählt in seinem Brief alle Personen und Organisationen auf, die in dabei unterstützt haben oder die er dafür instrumentalisiert hat. Beide Herren sind in körperlich guter Verfassung und erscheinen geistig geläutert. Sie werden an einem noch unbestimmten Ort und Tag freigelassen. Wir danken beiden Herren für ihren Lernprozess und hoffen, dass sie neue Kreise finden, in denen sie willkommen sind.»

Als die Medien die Briefe von Rösti und Ritter publizieren, ist die Empörung in der Öffentlichkeit über das Verhalten der bürgerlichen Politikern und Verbände gross. Es entsteht eine Stimmung ähnlich damals Ende der 1980er Jahre, als der Skandal um die geheimen Fichen über Hunderttausende von Bürgern aufgeflogen war. Unter dem Druck zahlreicher Kundgebungen sehen sich Bundesrat und Parlament gezwungen, neue Verfassungsgrundsätze zum Schutz der Biodiversität und der Umwelt auszuarbeiten, die innert Jahresfrist von Volk und Ständen gutgeheissen werden.

Das Basiskollektiv biodiv verschwand so spurlos, wie es agiert hatte, und nicht minder spurlos versandeten die polizeilichen Ermittlungen vollends.


[1] https://www.republik.ch/2024/09/05/aktive-faktenverdrehung

Erinnern, vergessen, manipulieren

02. Juni 2024

Es gibt Menschen, die eher dazu neigen, bestimmte Erlebnisse vergessen zu wollen. Und es gibt jene, die alles festhalten wollen, um es nicht zu vergessen. Ich gehöre zur zweiten Gruppe, und manchmal leide ich darunter. Denn je mehr  ich festgehalten habe, desto schwerer trage ich daran.

Das kann auch ganz physisch verstanden werden: in Form von Archivschachteln randvoll mit Briefen, Entwürfen, Notizen, ein Tausende von Seiten umfassendes Tagebuch, in fremden und eigenen Hand- und Maschinenschriften, bei jedem Umzug treppab, treppauf geschleppt und wieder chronologisch in die Regale eingeordnet. Dieses Frühjahr hatte ich mir die ersten zwanzig Jahrgänge im Versuch vorgenommen, Unwichtiges auszusortieren, also alles, was selbst mich in zehn Jahren nicht mehr interessieren würde. Wirklich viel war es nicht, was ich zum Altpapier gab. 

Dann kam Besuch, der grosse Tisch musste leergeräumt werden, und seither stockt das Vorhaben, für fast zwei Monate schon. Ich ahne den Grund; es warten besonders üppige Jahrgänge auf mich, und wieder werde ich vieles wenigstens anlesen müssen, um über dessen Verbleib im Archiv entscheiden zu können. Und wieder werde ich auf Erinnerungen stossen, die mir gänzlich entschwunden waren oder die sich anders in mir festgesetzt hatten – ja, genau darum hatte ich dies alles einst aufgeschrieben und aufbewahrt: um mich davor zu bewahren, Erlebnisse von mir selbst zu vergessen oder falsch zu erinnern.

Erst nach einer mehrjährigen Übergangszeit, in der ich fast nur noch auf dem Computer geschrieben, aber alles ausgedruckt und im Archiv abgelegt hatte, vertraute ich ganz auf meine Speicherplatten und war sehr froh, Einstiges durch einfache Suche direkt auf meinen Bildschirm holen zu können; denn wann hätte ich die Zeit gefunden, in meinen Archivschachteln nach etwas zu suchen? In den letzten dreissig Jahren hab ich nur mehr wenige dieser Schachteln gefüllt, hatte den intimen Umgang mit ihnen weitgehend verloren; wie hätte ich da rasch finden können, was mir im elektronischen Archiv oft auf den ersten Eingabebefehl gelingt? 

Auch die elektronisch gespeicherte Erinnerung hat freilich ihre Tücken. Weil es so einfach ist, bestimmte Dinge aktiv abzurufen, gewöhnt man sich daran, dieses Archiv auch nur auf diese Weise zu nutzen. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, mich mal einen Tag lang hinzusetzen und einfach durch alte Mailkorrespondenzen zu blättern. Beim papierenen Archiv hingegen bleibt mir gar nichts anderes übrig, als Blatt um Blatt zu lesen, wenn ich sicherstellen will, nichts zu übersehen; ich suche also vergleichsweise passiv, offen für das, was mir begegnet.

Während ich an meiner Art des Festhaltens von Erlebtem in all den Jahrzehnten nichts verändert habe, einmal abgesehen von den technischen Hilfsmitteln des Schreibens, von der Hand- zur Maschinenschrift und zum Computer, hat sich damit doch die Art, wie ich meine Archive nutze, radikal verändert. Verändert das auch meine Erinnerungen? Ist das, was ich auf Papier festhielt, weniger präsent, dann aber in Gänze, wenn ich ihm wieder begegne, während elektronisch Gespeichertes beim Suchen häufiger mal zum Vorschein kommt, aber nur als kontextloses Bruchstück, als Treffer unter anderen auf einer Liste? 

Solche noch recht harmlose Gedanken gingen mir durch den Kopf nach dem Hören der faszinierenden Reportage von Eva Wolfangel [1] über das Erinnern in Zeiten von Virtual Reality, die abgrundtief existenzielle Fragen aufwirft: Kann ich mithilfe der neusten Technik sicherstellen, mich an alles zu erinnern, nichts zu vergessen? Kann ich im Gegenteil dank solcher Technik Dinge vergessen, die mich belasten? Und von wem und wozu könnten solche Wunderdinge missbraucht werden? Wenn unser natürliches Erinnerungsvermögen schon selektiv und unzuverlässig funktioniert: wie anfällig sind wir denn für Manipulationen, die uns falsche Erinnerungen eingeben? Und schliesslich: Wer wäre denn in der Lage, sich die lückenlosen Aufzeichnungen des selber Erlebten jemals anzuschauen? Und wenn: wozu könnte das gut sein? Ist es nicht klüger, die Unvollkommenheit unserer Erinnerung als Teil unseres Seins anzunehmen und als Dank dafür nicht noch manipulierbarer zu werden?

Ich bin jedenfalls froh, dass mich keine neue Technik des Festhaltens reizt und ich vollkommen autonom entscheiden kann, was in mein Archiv gehört und was nicht, und dass ich es, sollte ich einst ganz den Überblick verlieren, es notfalls auch einfach vernichten kann.

[1] Hörenswert: «Manipuliertes Gedächtnis» von Eva Wolfangel. Mithilfe von Virtueller Realität und Künstlicher Intelligenz lassen sich Erinnerungen heutzutage so einfach fälschen wie noch nie.
Übrigens: «Reportagen» ist eine echt gut gemachtes Zeitschrift, die man auch abonnieren kann; hab ich jetzt endlich gemacht.

Un omicidio del tutto inatteso

09. März 2024

Dietro un titolo fuorviante si nasconde un intelligente romanzo giallo – attenzione: elevato rischio di dipendenza! – con una storia non improbabile ambientata nella fittizia cittadina emiliana di Valdenza*, raccontata in modo spiritoso, pur toccando temi seri della società italiana e in particolare i rapporti tra uomini e donne. Nel suo primo romanzo giallo, l’autrice si cimenta nei panni del narratore maschile Ricco, nel cui piccolo bar, un’ex-latteria, la gente si ritrova per un caffè al mattino e per festeggiare il dopo il lavoro. È una vita semplice e tranquilla che gli piace e che gli permette di osservare le persone con uno sguardo amorevolmente ironico, compreso se stesso.  

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Ein ganz unerwarteter Mord

09. März 2024

Hinter dem irreführenden Titel verbirgt sich ein kluger Kriminalroman – mit mittelmässigen Italienischkenntnissen flüssig zu lesen, aber Obacht: Suchtgefahr! – mit einer nicht unwahrscheinlichen Geschichte, die in der fiktiven emilianischen Stadt Valdenza* spielt, in einem witzigen Stil erzählt wird und gleichzeitig ernste Themen der italienischen Gesellschaft und insbesondere der Beziehungen zwischen Männern und Frauen berührt. In ihrem ersten Kriminalroman schlüpft die Autorin in die Rolle des männlichen Erzählers Ricco, in dessen kleiner Bar, einer ehemaligen Molkerei, man sich morgens zum Kaffee trifft und abends nach der Arbeit feiert. Es ist ein einfaches, ruhiges Leben, das er geniesst und das ihm erlaubt, die Menschen mit einem liebevoll-ironischen Blick zu beobachten, auch sich selbst.

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WaldLeben? Eine Reise in meine Vergangenheit

18. Februar 2024

Kürzlich wurde ich unerwartet in meine eigene Vergangenheit entführt. Eine Historikerin und ein Historiker aus dem Kanton Zürich recherchierten Quellen zum Thema Waldsterben und waren dabei auch auf den Verein «WaldLeben» gestossen, den ich zusammen mit ein paar Freunden 1983 gegründet hatte – für die Erhaltung des Waldes überall auf der Welt.

Wir hatten nicht einfach auf dem plötzlichen Medienhype mitreiten und die üblichen Forderungen aus ökologischer Sicht stellen wollen, sondern eigenverantwortliches Handeln fördern und damit Glaubwürdigkeit und Machbarkeit solcher Forderungen an Politik und Wirtschaft beweisen. Unser Ziel war es gewesen, mindestens 100’000 Menschen in der Schweiz zu finden, die sich freiwillig bereit erklärten, ihre Autofahrten auf ein Minimum zu beschränken, ihre Wohnung bis höchstens 19 °C zu heizen – und von den Behörden auf allen Ebenen Taten zu fordern. 

Ob ich Zeit für ein paar Fragen hätte? Ja, sicher; aber ich musste mich erst einmal in meinem Archiv wieder in unsere damaligen Aktivitäten einlesen, es war so viel geschehen für mich seither. Was ich auf Anhieb fand, war ein Ordner mit den Ausgaben der Zeitschrift «Luftpost», die wir von 1984 bis 1990 herausbrachten und die ich redigiert und gestaltet hatte. Und während ich durch die 32 Ausgaben blätterte, staunte ich immer wieder, was wir damals alles getan und geschrieben hatten. Es ging längst nicht nur ums Auto, auch wenn dessen Gebrauch im Zentrum stand. Einzelne Aktionen hatte ich vergessen, auch deren Zahl und Vielfalt. Waldbegehungen zusammen mit Förstern, Tourneen zu Fuss oder mit Ross und Wagen durch die Dörfer, kulturelle Veranstaltungen im öffentlichen Raum, Sternwanderung aus allen Regionen der Deutschschweiz aufs Rütli, Demonstration für saubere Luft in St. Gallen mit 4000 Menschen, kurze Besetzung der Quaibrücke oder von Parkplätzen in Zürich, Vorstösse an Krankenkassen wegen der Folgen der Luftverschmutzung, und so weiter. Grössere Aktionen hatten wir jeweils zusammen mit verschiedenen nationalen und regionalen Organisationen geplant und umgesetzt.

Aus den Wurzeln verschiedenster Gräser

Die Art unseres Tuns hingegen war mir sogleich wieder vertraut. Der Verein «WaldLeben» zählte nur wenige Mitglieder, personell viel wichtiger waren die Menschen in den verschiedenen Regionen der Deutschschweiz, die sich autonom unter dem Motto «WaldLeben» zusammenfanden und aktiv wurden, graswurzelartig und ohne Direktiven von einer Zentrale. Meine Aufgabe als Initiant beschränkte sich auf die Redaktion der Zeitschrift als Mittel der Kommunikation untereinander und gegenüber einer interessierten Öffentlichkeit, auf Koordination soweit gewünscht und auf Gedankenanstösse. Die lose organisierten Gruppen in den verschiedenen Regionen bestanden aus Menschen, die sich aus anderen Zusammenhängen bereits kannten; einige von ihnen hatte ich zu Beginn kontaktiert, weil ich sie von früheren gemeinsamen Tätigkeiten kannte, beim Förderverein für Umweltschutzpapier und Selbstverwaltung, bei der Leser Zeitung, beim M-Frühling und ähnlichen Gelegenheiten.

Trainingslager für die Erderwärmung?

Das anderthalbstündige Gespräch mit meinen beiden Interviewern war auch für mich selber sehr aufschlussreich, weil ihre Fragen wie Scheinwerfer in eine Zeit meines Lebens leuchteten, die längst vergangen schien. Mir wurde etwa bewusst, dass die damals heftige Diskussion um das Waldsterben und die damit verbundenen Aktionen beider Lager (Autoverzicht versus «Mein Auto fährt auch ohne Wald») rückblickend betrachtet als Trainingslager für die weit bedeutendere und heftigere Debatte um die Erderwärmung hätte dienen können. Wir hätten nur am Thema dran bleiben brauchen, als der Hype in den Medien vorüber war. Reportagen über den Zustand des Waldes in der Schweiz und in anderen Ländern wären auch zehn, zwanzig, dreissig Jahre später nötig und interessant geblieben; denn nur weil inzwischen Autos mit Katalysatoren und Industrieanlagen mit Abgasfiltern ausgerüstet werden mussten, waren die Ursachen der Luftverschmutzung und des Waldsterbens ja nicht an der Wurzel behoben worden. Die zunehmende Erderwärmung war für einigermassen informierte Zeitgenossen zwar schon damals als drohendes Hintergrundrauschen wahrnehmbar; aber es schien noch so fern, dass der thematische Bogen vom Waldsterben bis dorthin wohl zu weitgespannt schien, zumal damals die Kräfte schon zur Bekämpfung des sauren Regens sehr beschränkt waren. Hätten wir in unserem damaligen Aktivismus so langfristig gedacht, wie wir es von den Förstern bei den Waldbegehungen eigentlich gelernt hatten, dann hätten wir nicht nochmals von vorne beginnen müssen, als der Streit um die Erderwärmung begann.

Rationierung der Brennstoffe?

Der Verein WaldLeben hatte sich nach ein paar Jahren nicht aufgelöst, weil das Problem in den Medien kaum mehr präsent war, und auch nicht wegen steter Geldknappheit. Wir gaben aus inhaltlichen Gründen auf. 1988 hatten wir die Idee für eine Volksinitiative zur Rationierung von Treibstoffen lanciert und zahlreiche Organisationen zur Stellungnahme und Mitarbeit eingeladen. Bei den Umweltorganisationen stiessen wir allerdings auf schroffe Ablehnung, einzig Greenpeace und die Schweizerische Energie-Stiftung begrüssten unseren Vorschlag. In einer Luftpost-Leserumfrage sprach sich eine knappe Mehrheit für die Idee aus. Auch die Mitgliederversammlung stand mehrheitlich hinter der Idee, beschloss aber, sie mangels Partnern fallen zu lassen. Gleichzeitig beschlossen wir die Auflösung des Vereins, da wir dessen Anliegen inzwischen wenigstens teilweise von anderen Organisationen wahrgenommen sahen. Der Name WaldLeben ging an die seit Jahren aktive Gruppe in Zürich über, die Luftpost wurde als unabhängige Zeitschrift weitergeführt und diente als Organ für den 1986 gegründeten Verein freund/innen/der/erde (Schweizer Mitglied im des Internationalen Verbands Friends of the Earth International), bis sich dieser sich Ende 1990 auflöste. (Später wurde Pro Natura zum Schweizer Mitglied von FOEI).

Brückenschlag von links-grün bis bürgerlich-konservativ

Meine Interviewer fragten, warum für uns das Auto im Zentrum unserer Argumentation gestanden hatte. Ich bin nicht sicher, ob wir uns das damals explizit überlegt hatten; vielleicht hatten wir das einfach intuitiv so entschieden. Jedenfalls ist das Auto, gerade in einem Land der Wohnungsmieter wie der Schweiz, für viele der einzige private Raum, über dessen Gebrauch sie einigermassen frei entscheiden können. Also war das Auto der beste Ansatzpunkt für die freiwillige Selbstbeschränkung, auf der wir aufbauen wollten. Mieter dagegen können bestenfalls ihren individuellen Konsum einer bestehenden Heizung beeinflussen; Werktätige haben so gut wie keinen Einfluss auf den Verbrauch fossiler Energie an ihrem Arbeitsort. 

Weiter wollten sie wissen, ob denn WaldLeben vor allem Menschen links der Mitte angesprochen habe. Nein, ich erinnere mich an gute Begegnungen auf unseren Wanderungen von Dorf zu Dorf und, unter Führung lokaler Förster, durch die Wälder, mit bürgerlich, konservativ eingestellten Menschen, nicht zuletzt die Förster selbst, die schon für ihren Beruf eine konservative Haltung mitbringen müssen, um Bäume mit einer Lebensdauer von fünf oder mehr Menschengenerationen zu hegen und zu schützen. Und ich erinnere mich an ein Treffen mit dem damaligen, oft als stockkonservativ belächelten Bundesrat Alphons Egli, der eine Abordnung von uns empfing, während unsere bunte Truppe mit Ross und Wagen vor dem Bundeshaus wartete. Nach Ablauf der geplanten Viertelstunde wurde Eglis Sekretär nervös und zeigte immer wieder auf die Uhr; doch Egli wischte protokollarische und terminliche Bedenken beiseite: Ich will jetzt mit diesen jungen Menschen reden, denn das ist wichtig, was sie tun – und er entliess uns erst nach einer Dreiviertelstunde. Auch wenn dieser intensive persönliche Austausch hernach in der Politik kaum Folgen zeigte, vielleicht auch, weil Egli nach einer Amtsperiode schon wieder zurücktrat, zeigten diese und viele andere Begegnungen, dass das Waldsterben Menschen in allen Schichten und politischen Lagern betroffen machte, auch einen Freund, der damals der Autopartei nahestand, und auch meinen Vater, der mit den links-grünen Überzeugungen seiner Kinder grosse Mühe hatte, die persönliche Erklärung zur Reduktion seines Autogebrauchs aber unterzeichnete und ernst nahm.

Ja, wenn es uns gelungen wäre, diesen Brückenschlag mit Schwung weiterzutragen, auch über die Sprach- und Landesgrenzen hinaus, dann wäre die Gesellschaft vielleicht besser vorbereitet gewesen für die viel grösseren Herausforderungen durch die Erderwärmung, die heute immer mehr Menschen bewusst werden, viele aber auch hilflos machen. Kann sein, dass wir zu uns zu sehr dagegen sträubten, feste Strukturen für unser Tun zu schaffen. Allerdings glaube ich bis heute nicht daran, dass klar strukturierte und zentral geführte Bewegungen wirklich jene Veränderung bewirken, die notwendig ist, damit immer mehr Menschen lernen, anders miteinander und mit der Welt umzugehen.

PS: 
Menschen anregen und befähigen, selber Schritte zu machen, hat mich immer besonders interessiert, auch später. Bei WaldLeben die «Persönliche Erklärung», in der M-Frühling-Zeitschrift Tips für Alternativen zum üblichen Konsum, bei KAGfreiland die Drehscheibe, über die sich Konsumenten und Bauern leichter finden konnten, bei fair-fish die leicht merkbare Formel «Fisch max. 1x im Monat» und für jene, die es genauer wissen möchten, den Fischtest.
Die Veränderung im Grossen wird nicht nachhaltig sein, wenn sie nicht im Kleinen gelebt wird.

Should I worry more about the brain or the soul?

11. Januar 2024

Image of a human brain organoid stained with DAPI (teal) and VIPR2 (magenta).
(Credit: Nreis1/Wikimedia)

Many bother about „artificial intelligence“. Should we bother more about brain models built on tissue from aborted foetuses? I suggest that we bother first of all about the enormous lag in ethical and social development of ourselves.

Humankind is still a long way from understanding how to evolve into a society of peaceful, compatible beings who live in respect for all living beings, including themselves—let alone from recognising this situation and trying to get out of it. 

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Wiederbevölkerung der Tundra mit grossen Grasfressern, um die globale Erwärmung einzudämmen

30. Dezember 2023

Von all den gross angelegten Plänen zur Abschwächung der verrückten globalen Erwärmung überzeugen mich nur zwei: die Wiederherstellung der Fischbestände bis zu ihrem historischen Reichtum [1] und die Wiederbesiedlung der Arktis bis zu ihrer historischen Fülle. Wenn wir den Planeten nicht mit allen anderen Lebewesen teilen und uns mit dem Platz begnügen, der dem Homo sapiens gebührt, wird unsere Spezies untergehen. Es geht um uns und unsere Umwelt – die Natur und der Planet werden auch ohne uns auskommen.

Während die Quatsch-Wissenschaft Geld verbrennt, um die dritte Kommastelle bekannter Fakten zu entdecken, müssen Forschungspioniere ausserhalb des vorherrschenden Paradigmas ihre Idee mit wenig Geld in der Hand verfolgen, zum Glück gesegnet mit ihrem Verstand. Selbst Forscher in gut entwickelten Kontexten laufen Gefahr, die Werkzeuge für ihre Experimente selber bauen zu müssen, wie ein Artikel in „Nature“ zeigt [2]. Der Homo sapiens hat ein grosses und komplexes Gehirn mit einem der höchsten Energiebedarfe im Verhältnis zum ganzen Körper [3] – wir müssen es einfach nutzen!

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Wölfe, Autoritäre und die Ethik

28. Dezember 2023

Wolf Canis lupus (Foto: Tracy Brooks / Wikimedia Commons)

«Deep Ecology» nannte der norwegische Philosoph Arne Næss die Haltung, aus der heraus wir Menschen allem Leben begegnen sollten, im Anerkennen, dass alle Arten in der Biosphäre grundsätzlich gleichberechtigt sind. Dieser Ansatz reicht tiefer als der Veganismus, weil das Bewusstsein der «Verbundenheit im Recht auf ein gutes Leben», wie ich es nenne [1], nicht nur (bestimmte) Tiere einschliesst, sondern alles, was lebt. Mitakuye Oyasin, alle meine Verwandten, wie die nordamerikanischen Ureinwohner sagen: Alles Leben ist miteinander verbunden, und zwar derart, dass es ganz selbstverständlich ist, den Baum, dessen Holz, oder den Bison, dessen Fleisch und Fell man benötigt, um Verzeihung zu bitten. Eine derartig Haltung ist für von der Kolonisierung noch wenig tangierte Indigene eine praktisch-mystische Selbstverständlichkeit. Respekt als grundlegende Haltung beim Nutzen anderen Lebens: so wenig wie nötig und so schonend als irgend möglich.

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Lehren aus dem Fall Moro

20. Dezember 2023

Die «anni di piombo», die bleiernen 1970er Jahre, waren in Italien, wie in Deutschland, geprägt vom Zusammenbruch alter Konventionen in den Studenten- und Arbeiterrevolten (1968) und von einer zunehmend härteren Auseinandersetzung zwischen der Neuen Linken und der Reaktion der herrschenden Kreise, bis hin zu offener Gewalt sowohl der Staatsorgane wie auch der militarisierten Aktionsgruppen (Brigate Rosse, RAF und andere). Italien ist ein relativ junger Staat, in den 1860er Jahren von den piemontesischen Truppen bis ganz in den Süden «vereinheitlicht», was zumindest in Sizilien [1] das Schicksal vieler Menschen eher verschlechterte; die Bruchlinien zwischen Norden und Süden bestehen bis heute, auch die neue republikanische Verfassung nach dem Ende des Faschismus’ konnte sie nicht wirklich kitten.

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