Lehren aus dem Fall Moro

20. Dezember 2023

Die «anni di piombo», die bleiernen 1970er Jahre, waren in Italien, wie in Deutschland, geprägt vom Zusammenbruch alter Konventionen in den Studenten- und Arbeiterrevolten (1968) und von einer zunehmend härteren Auseinandersetzung zwischen der Neuen Linken und der Reaktion der herrschenden Kreise, bis hin zu offener Gewalt sowohl der Staatsorgane wie auch der militarisierten Aktionsgruppen (Brigate Rosse, RAF und andere). Italien ist ein relativ junger Staat, in den 1860er Jahren von den piemontesischen Truppen bis ganz in den Süden «vereinheitlicht», was zumindest in Sizilien [1] das Schicksal vieler Menschen eher verschlechterte; die Bruchlinien zwischen Norden und Süden bestehen bis heute, auch die neue republikanische Verfassung nach dem Ende des Faschismus’ konnte sie nicht wirklich kitten.

Weiterlesen »

Poet, Botaniker, Weltenreisender

19. Dezember 2023

Im Büchergestell meines Vaters standen nebst einigen Romanen (ich erinnere mich an Namen wie Salvador de Madariaga, Norman Mailer, Herman Melville oder Ernst Jünger), einem dicken  siebenbändigen Schweizer Lexikon, diversen Militaria und Sachbüchern zur Weltgeschichte auch einige Klassiker in gediegenem Einband, von Dante bis Chamisso. Interessiert haben mich als Junge nur das Lexikon und ein grosser Atlas. Im Verlauf der Jahre hab ich mir meine eigene Bibliothek zusammengestellt, und als Vater und viel später auch Mutter gestorben waren und die Wohnung aufgelöst werden musste, war das alte Büchergestell ein Fall für die Entsorgung, die Bücher so gut wie die schönen Ganzholzregale – wir Kinder und unsere Kinder waren längst eingerichtet in unseren Wohnungen, in denen der Platz längst vergeben war, was auch für die Brockenhäuser galt. Ja, hätte Vater dem Drängen seiner Frau nachgegeben und ein Haus für die Familie gekauft, anstatt ängstlich zu rechnen, dann stünde die Bibliothek jetzt mitsamt dem ganzen Mobiliar in einem Haus, in das wir alle immer wieder gerne zurückkehren würden…

Weiterlesen »

Vorwärts zurück zum Winterschlaf?

15. Dezember 2023

Ein Streifenhörnchen beim Winterschlaf
(Foto: Michael Himbeault / Wikimedia Commons)

Vorgestern mochte ich schon am Morgen kaum aus dem Bett, sehr müde und sehr schlapp. Ich stand bloss auf, um meine Katze rauszulassen und mir eine Kanne Tee zu kochen. Abgesehen von weiteren kurzen Aufenthalten für ähnliche Zwecke verbrachte ich den ganzen Tag sehr faul im Bett, bis gestern morgen um elf Uhr. Dann entdeckte ich als Erstes auf Facebook bei Thomas Grünwald ein kleine kleine Ode an den Winterschlaf – und war hellwach: Meine Rede seit Jahren!

Tatsächlich täte es uns und der Menschheit und allen den Planeten mit uns teilenden Lebewesen gut, wenn wir dem Rhythmus der Jahreszeiten folgen und unser emsiges Tun in den kalten Monaten herunterfahren würden. Zumindest in Europa und Nordamerika tut der moderne Homo sapiens, wie ich ihn als Sozialpsychologe kennen gelernt habe, eher das Gegenteil: Er geniesst im Sommer die langen freien Abende, doch wenn der Herbst in den Winter übergeht, verfällt er in hektischen Aktivismus, weil er vor Weihnachten und Jahresende noch so viel erledigen muss, als könnte das nicht bis zum Frühling warten.

Weiterlesen »

Reale Fabelwesen mit vertauschten Elternrollen

11. Dezember 2023

«Naturkunden» nennt sich eine von Judith Schalansky herausgegebene Reihe kleiner feiner Bücher im Berliner Mattes & Seitz Verlag, in der im Lauf der vergangenen zehn Jahre schon rund hundert Tierarten vorgestellt worden sind, darunter auch etliche Wassertiere. Der 2023 erschienene Band 95 ist den Seepferdchen gewidmet, genauer: ihnen und dem Leben und Geschehen in den Meeren um sie herum. Die Wiener Schriftstellerin und Evolutionsbiologin Andrea Grill nimmt uns mit auf eine faszinierend erzählte Reise durch die Zeit und rund um den Globus.

Weiterlesen »

Gefangen auf Inseln

07. Dezember 2023

Eine Frau lebt allein mit ihren fünf Kindern auf einem kleinen Bauernhof abgelegen in der Toscana. Der auch ihr gegenüber gewalttätige Mann kam in den Knast, und weil er in einem Wutausbruch einen Gefängniswärter umgebracht hat, wurde er in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegt. Hier besucht in seine Frau gelegentlich, mit zubereiteten Mahlzeiten im Gepäck, eine weite Reise mit Bahn und Schiff, für die sie sich in aller Frühe aufmachen muss, um spät am selben Abend wieder zuhause zu sein. Eine Reise aber auch,  die ihren anstrengenden Alltag unterbricht und sie das Meer sehen lässt.

Weiterlesen »

Tunnelbau ohne Rücksicht auf Verluste

05. Dezember 2023

Peter Beutler hat es erneut getan – unermüdlich erzählt er wahre Begebenheiten als Kriminalromane und erschreibt sich so die Freiheit, auf der Grundlage des gesicherten Materials mögliche Puzzleteile zu erfinden für das, was noch aufzuklären bleibt oder wegen irgendwelcher höherer Interessen vielleicht gar nie geklärt werden soll. Ich habe Beutlers «Balance überm Abgrund geheim gehaltener Fakten» schon früher bewundert; vermutlich nur deswegen habe ich meinen jahrzehntealten Plan, das spätere Schicksal der plötzlich und spurlos aus der Geschichte der Spätantike verschwundenen Vandalen zu erfinden, noch nicht ganz aufgegeben.

Fünfzehn Romane hat der pensionierte Chemiker und Gymnasiallehrer  in den vergangenen dreizehn Jahren publiziert, jeder sein Papier und die Lesezeit mehr als wert. Sein neustes Werk ist eine grandiose Räuberpistole, die mir mir keine Ruhe liess, bis ich sie zuende gelesen hatte. Weil Beutler die Geschichte einmal mehr packend erzählt – und weil das Wichtigste davon ja wirklich passiert ist, noch dazu rund um einen See und eine Bioforellenzucht, die ich einst gut kannte. 

Weiterlesen »

Una montagna, un libro e un cestino

03. Dezember 2023

Basta bere un caffè. Grazie a un caffè, non era certo il primo, nella pasticceria Dorbolò di San Pietro al Natisone, mi sono imbattuto nel libro, di cui erano in vendita alcune copie al banco. E dopo che il Matajur alle spalle di Cividale è diventato la mia montagna sacra, per così dire, perché mi sono commosso quando ho sperimentato per la prima volta l’incredibile vista da lassù, tutt’intorno su tutte le catene di montagne dal Veneto attraverso il Friuli e la Carinzia fino alla Slovenia e attraverso la pianura fino ad Udine ed al mare, ho comprato il libro. Per fortuna! Le vecchie storie raccolte e raccontate da Giuliano Citti, quarantenne alpino e scultore ligneo più indietro nella valle del Natisone, sono die una bellezza semplice; non a caso ha vinto quest’anno il premio letterario „Settembrini“ della Regione Veneto.

Weiterlesen »

Ein Berg, ein Buch und ein Korb

03. Dezember 2023

Man muss eben Kaffee trinken. Dank eines Kaffees, lang nicht dem ersten, in der Konditorei Dorbolò zu San Pietro al Natisone, war ich auf das Buch gestossen, von dem an der Theke ein paar Exemplare zum Verkauf auflagen. Und nachdem der Matajur hinter Cividale sozusagen mein heiliger Berg geworden ist, weil ich so ergriffen war, als ich zum erstenmal die unglaubliche Aussicht von dort oben erlebte, rundherum über all die Bergketten vom Veneto übers Friaul und Kärnten bis nach Slowenien und über die Ebene bis nach Udine und bis zum Meer, kaufte ich das Buch. Zum Glück! Was Giuliano Citti, ein vierzigjähriger Älpler und Holzbildhauer weiter hinten im Natisonetal, an alten Geschichten zusammengetragen hat und erzählt, ist von schlichter Schönheit; nicht von ungefähr hat er den diesjährigen Literaturpreis «Settembrini» der Region Venetien gewonnen. 

Weiterlesen »

Menschenverachtende Herrschaft am Beispiel der Bevölkerung Siziliens

01. Dezember 2023

Die Verlegerin Monika Lustig beschenkt mit ihrer kleinen feinen Edition Converso ein an mediterranen Sprachwelten interessiertes Publikum immer wieder mit Entdeckungen. So zum Beispiel mit zwei Büchern, die das den meisten wohl unbekannte Schicksal der sizilianischen Bevölkerung in zwei verschiedenen Epochen erzählen. Dass die Menschen in Süditalien und vor allem in Sizilien in fast jeder Hinsicht benachteiligt sind, weiss man aus den Medien wohl, dass ausser ihnen die Mafia, die Bürokratie und das römische Polittheater daran schuld, ahnt man. Aber wie kommt es, dass eine vor achthundert Jahren als Königreich unter dem deutschen Stauferkaiser Friedrich II. kulturell führende Region Europas zum zurückgelassenen Armenkind geworden ist?

Weiterlesen »

Zigeuner darf man nicht mehr sagen. Warum?

27. November 2023

Das ist ein Versuch. Keine Ahnung, ob Facebook oder andere Sittenwächter einen Text ungeschoren lassen, der das Wort «Zigeuner» nicht nur auf dem Cover des besprochenen Buchs, sondern auch im Text enthält. Soweit hat es diese verklemmte Gesellschaft mittlerweile gebracht, dass man einen herabsetzend gedachten Begriff zwar immer noch denken und danach handeln darf, aber sagen oder schreiben, um Himmelswillen nicht!!!

Weiterlesen »